Von Frank Hellmann
Das nächste Wunder von der Weser
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Am Dienstag ist trainingsfrei an der Weser. Einfach mal durchschnaufen. Und die Beine hochlegen. Oder wie Viktor Skripnik es zugunsten der Familie zu tun pflegt: auch das Handy ausschalten.
Dabei besteht eigentlich reichlich Erklärungsbedarf für den Trainer des SV Werder Bremen: Selbst der offiziell als Werder-Botschafter eingespannte Jan Delay traut beim Anblick der Tabelle seinen Augen nicht. „Jaaaaaaaa!! Einstellig!!! Wie lange habe ich nicht mehr in die erste Tabellenhälfte gucken dürfen. Da wird ja bald die Hymne fällig!", postete der Musiker via Facebook.
Quer durch die Republik sandten sich Werder-Fans am Sonntag die Kurznachrichten zu. So wie Anhängerin Katrin Demann aus Frankfurt, deren Elternhaus in der Nachbarschaft von Torsten Frings steht: „Wahnsinn!!! Werder!!!“
Bremen will mehr
Die vielen Ausrufezeichen stehen für das nächste Wunder von der Weser. Vier Siege in Folge haben die Hanseaten in gesicherte Regionen gehievt; gibt es nun gegen den FC Augsburg am Samstag den fünften Erfolg, dann wäre der Klassenerhalt beinahe schon gesichert.
Jedenfalls hätten 29 Zähler in der vergangenen Saison locker gereicht. Aber im Weserstadion wollen sie mehr: Dort hat die Ostkurve gegen Leverkusen (2:1) erstmals wieder Gesänge vom Europapokal angestimmt. (DATENCENTER: Die Tabelle)
"Ich lasse mich nicht provozieren“, entgegnete sogleich Trainer Viktor Skripnik. Und Kapitän Clemens Fritz warnte: "Wolfsburg, Bayern, Schalke: Vor allem im März kommen schwere Gegner auf uns zu, das wird eine enorm schwierige Phase." Auch Zlatko Junuzovic mahnte: "Wir müssen uns voll auf Augsburg konzentrieren. Das wird ein harter Brocken. Die Liga ist unglaublich ausgeglichen."
Bei Werder wächst was zusammen
Der Mittelfeldrenner und Freistoßspezialist will in ein, zwei Wochen eine Entscheidung treffen, ob er seinen auslaufenden Vertrag verlängert. Ausgerechnet der Nordrivale Hamburger SV hat ein finanziell lukratives Angebot vorgelegt, aber Junuzovic hat nun angedeutet, dass er sich einen Verbleib vorstellen kann.
"Ich weiß, was ich an Werder habe. Die Mannschaft ist super." Tatsächlich ist an der Weser etwas zusammengewachsen - ganz anders als an der Elbe.
Die Mischung stimmt, weil Skripnik an entscheidenden Positionen herumgeschraubt hat. Trotz des Theaters um die geplatzte Rückkehr von Felix Wiedwald wurde Torwart Raphael Wolf intern vom Trainerteam so gestärkt, dass er Sicherheit ausstrahlt. Dazu setzt der Ukrainer auf eine Innenverteidigung, auf die er sich endlich verlassen kann: Wie Alejandro Galvez und Jannik Vestergaard in der Rückrunde abräumten, das hatte Klasse.
Mitunter sah es so aus, als sei die spanisch-dänische Combo seit Jahren eingespielt. Ohne jede Sprachprobleme. "Wir verstehen uns mit den Basics", sagt Vestergaard zu SPORT1, "lange Dialoge muss man eh‘ nicht auf dem Platz führen."
Dumm nur, dass der im Sommer ablösefrei geholte Galvez sich jetzt einen Syndesmosebandanriss zugezogen hat und wochenlang ausfällt. Eine erhebliche Schwächung für die Grün-Weißen.
Sturmduo überzeugt
Doch die Abwehr ist nicht der einzige Grund für den Höhenflug. Augenfällig auch, wie Philipp Bargfrede aufgeblüht ist. Der 25-Jährige gibt der Mannschaft neuen Halt. An seiner Seite erlebt auch Clemens Fritz, der in der Hinrunde nicht mehr hinterher zu kommen schien, mitten im Winter seinen dritten Frühling. Mit 34 Jahren.
Und dann sind da natürlich noch Stürmer wie Franco di Santo (neun Tore) und Davie Selke (fünf). Di Santo wirkt eine Spur geschmeidiger, Selke gibt sich einen Tick draufgängerischer. Beide sind groß gewachsene, durchschlagkräftige Angreifer, die es von diesem Kaliber kaum mehr gibt.
Der eine kostete übrigens gar nichts (di Santo), der andere läppische 50.000 Euro (Selke). Machen sie so weiter, sind sie Werders beste Wertanlage.
Skripnik weckt brach liegendes Potenzial
Dass der Kader genügend Qualität habe, betonte Geschäftsführer Thomas Eichin oft genug. Aber erst der mutige Stil von Skripnik weckte offenbar das brach liegende Potenzial.
Dessen entscheidender Schachzug im Vergleich zu Robin Dutt, der zu intellektuell auf die Spieler eingewirkt haben soll, hat weniger mit fußballerischen Fähigkeiten zu tun. Sondern damit, dass ein Überzeugungstäter das Team stark redet. Der Trainer macht sich sogar selbst klein, damit seine Spieler groß wirken.
Sein Understatement wirkt rührig – während das Umfeld schwebt, bleibt er am Boden kleben. Und der Ukrainer sagt: "Ich schaue nur nach unten."
Der 45-Jährige hat bislang bei fast allen personellen oder taktischen Maßnahmen richtig gelegen. Die Grundausrichtung ist dabei offensiv – aber wenn wie gegen Leverkusen defensiver agiert werden muss, geht auch das. Sein Versprechen: "Der Trainerstab brennt ohne Ende."
Aber erst nach einem freien Tag wieder.