Hans-Joachim Watzke hat in schönen Worten auf den Punkt gebracht, was Carlo Ancelotti wohl durch den Kopf gegangen ist.
Darum verrohen die Sitten in den Stadien
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"Wenn dir einer von oben auf den Kopf rotzt, dann findest du das nicht so spannend", sagte der Geschäftsführer von Borussia Dortmund im ZDF Sportstudio. So lakonisch, wie der Trainer des FC Bayern München die Welt gewöhnlich auch betrachtet.
Ein spöttisches Lächeln, eine hochgezogene Augenbraue: Für gewöhnlich sind das die einzigen Gefühlsausbrüche, zu denen der in sich ruhende Ancelotti sich provozieren lässt.
Dass es nun so weit gekommen ist, dass selbst er für einen Moment seine guten Manieren vergaß: Das ist eigentlich doch wieder ganz spannend.
Provokation rückt in den Hintergrund
Ancelotti hat einem Berliner Zuschauer den Mittelfinger gezeigt, der ihn beim Weg in den Stadiontunnel auf den Kopf gespuckt haben soll.
Eine verständliche Reaktion oder etwas, was sich ein Mann mit Vorbildfunktion trotz allem nicht erlauben darf? Darüber streiten nun die Etikette-Experten, dazu ermittelt nun der DFB-Kontrollausschuss.
Was alles seine Berechtigung hat, aber doch auch den Blick weglenkt vom Ausgangspunkt des Geschehens: Dass an diesem Fußball-Wochenende mal wieder mehrere Fans ihre guten Manieren vergessen haben - ohne dafür eine Rechtfertigung zu haben.
Die Tabubrüche summieren sich
Eine Spuck-Attacke auf Ancelotti, eine Spuck-Attacke auf Schiedsrichter Patrick Ittrich: Das waren die Fan-Verfehlungen dieser Partie, zwei von vielen, die sich in den vergangenen Wochen angesammelt haben.
Man denke an das Gladbacher Fan-Plakat gegen die Anhänger von RB Leipzig am Sonntag ("Wir verurteilen jeden Stein, der euch Kunden nicht getroffen hat"), die Verhöhnung der Todesopfer der Luftangriffe von Dresden durch Fans des FC St. Pauli vergangene Woche, über allem natürlich die Vorfälle rund um die Partie zwischen Dortmund und Leipzig vor zwei Wochen. Auf die wütende Leipzig-Fans wiederum mit Morddrohungen gegen Watzke reagierten.
Die Tabubrüche sind unterschiedlich schwer, aber sie summieren sich. Und werfen die Frage auf, was da eigentlich los ist in Deutschlands Fußballstadien.
Watzke: "Die Gesellschaft verroht"
Einen Teil der Antwort glaubt Watzke zu wissen. "Diese Gesellschaft verroht", sagte er am Samstag im Sportstudio, als er auf die Gewaltausbrüche Dortmunder Anhänger rund um das RB-Spiel angesprochen wurde. Und: "Der Fußball bildet diese Gesellschaft wie nichts anderes ab."
Die Bandbreite der jüngsten Fan-Eklats und ihrer Urheber spricht für diese These. Auf der einen Seite wurden Randständige gewalttätig, auf der anderen Seite vergaßen sich auch die besseren Kreise: Der Spuckangriff auf Ancelotti soll von der Berliner VIP-Tribüne gekommen sein.
Übersteigerte Begeisterung
410.117 Menschen besuchten an diesem Wochenende Deutschlands Bundesliga-Stadien, noch weit mehr konsumieren das Spiel am Fernseher und im Netz. Die Begeisterung für den Fußball eint die sehr unterschiedlichen Gesellschaftsschichten - aber auch die Tendenz, sich etwas zu sehr in diese Begeisterung hineinzusteigern.
Mal im Eifer des Gefechts, angestachelt von einem emotionalen Spiel wie Hertha - Bayern, wo ihnen der Kontrollverlust von den Protagonisten auf dem Platz auch vorgelebt wird.
Mal ganz grundsätzlich, weil ein ungeliebtes Klubkonstrukt mit ihren liebgewonnenen Traditionen bricht.
Fan-Forscher warnt vor "Hasskultur"
Von einer "Hasskultur" gegen RB Leipzig sprach kürzlich Fanforscher Gunter A. Pilz in der Leipziger Volkszeitung (und warf auch Watzke vor, er habe durch "unbedachte Äußerungen" Wasser auf die Mühlen der RB-Feinde geschüttet).
Zugleich erinnerte der Soziologe aber auch an ein sehr wesentliches Detail: Dass trotz allem nur eine Minderheit der Fans diese Hasskultur auslebt.
"Die große Masse der Fans braucht man überhaupt nicht unter Kontrolle zu bringen, weil die gar nichts machen", hielt Pilz fest.
Es geht auch unbedenklich - eigentlich
Das friedliche Betragen dieser großen Masse gerät jedoch leicht in den Hintergrund, das Gladbacher Spiel gegen RB war dafür das beste Beispiel.
Ein Großteil der Borussia-Fans setzte sich dort ja zwar kritisch, aber auf unbedenkliche, teils sehr kreative Weise mit den Leipzigern und ihrem Sponsor auseinander ("Trinkt mehr Milch!"). Es hätte ein schönes Kontrastbild zu den Ereignissen von Dortmund werden können, ein Beleg dafür, dass die Parallelwelt Fußball ihre Konflikte auch auf weniger hässlichem Wege austragen kann.
Das unsägliche Steinewerfer-Plakat hat das zunichte gemacht.