Vor dem Hinspiel in der Allianz Arena (20.45 Uhr im LIVETICKER und unserem Sportradio SPORT1.fm) herrscht eine ganz eigenartige Stimmung in Nordlondon.
Bayern als Schicksal für Wenger und Özil
© SPORT1-Grafik: Getty Images/iStock/Marc Tirl
Einerseits kann Arsenal nach sechsmaligem Aus im Achtelfinale in Folge gegen den favorisierten FC Bayern München (die Chancen stehen 67:33 Prozent für die Münchner, sagen die britischen Buchmacher) nicht arg viel verlieren.
Eine neuerliche Niederlage käme relativ erwartet, insbesondere nach den schwachen Leistungen der letzten Wochen. Andererseits hat man das dumpfe Gefühl, dass nicht nur die Saison der Gunners, sondern der ganze Verein vor dem Duell mit Carlo Ancelottis Team auf der Kippe steht.
Wenger und Özil unter Druck
Zumindest die Zukunft der drei wichtigsten Arsenal-Protagonisten steht zur Disposition. Die beiden Resultate und vor allem die Spielweise der Londoner entscheiden womöglich, ob sich Klub und Team ohne das Trio Arsene Wenger, Alexis Sanchez und Mesut Özil demnächst völlig neu aufstellen müssen.
Wenger, so spürte man in den vergangenen Wochen, kämpft nicht mehr nur gegen das Heer der Kritiker aus den eigenen und fremden Reihen, sondern zunehmend mit sich selbst.
Der 67-Jährige will nach mehr als 20 Jahren im Amt nicht im eigenen Stadion angepöbelt werden. Bevor in Islington ein Massen-Aufstand gegen ihn ausbricht, würde er bestimmt von sich aus das Kapitel beenden und das Angebot über eine Vertragsverlängerung bis 2019 ausschlagen.
Umso wichtiger wäre im Gegenzug ein überraschender Erfolg, der Spaß, Optimismus und ein bisschen Ruhe zurück ins Emirates-Stadion bringen würde.
Ein Einzug ins Viertelfinale würde die regelmäßig enttäuschte Basis ein Stück weit versöhnen und Wenger das Gefühl geben, dass seine Mission noch nicht beendet ist.
Auch für Sanchez geht es um die Zukunft
Auch Alexis Sanchez' Verbleib hängt in gewissem Sinne an diesem Achtelfinale. Der Chilene kämpft um eine deutlich besser dotierte Vertragsverlängerung über 2018 hinaus.
Als einzig verlässlicher Leistungsträger (17 Tore) im Kader verfügt der 28-jährige Chilene über eine hervorragende Verhandlungsposition, steht aber auch vor einem großen Dilemma: Ist er nicht mittlerweile zu gut für ein Team, das nur um Platz vier spielt? Große Titel könnte er eher bei PSG, Juventus oder gar mit Pep Guardiolas Manchester City gewinnen.
Fliegt Arsenal gegen Bayern raus, werden seine Zweifel sicherlich größer - und der Verein wird erst recht gezwungen sein, ihn zu halten, um die Anhänger bei Laune zu halten.
Bis vor ein paar Wochen hätte alles das fast genauso für Mesut Özil gegolten. Auch der deutsche Nationalspieler hat sich nach zähen Verhandlungen mit Arsenal noch nicht über ein neues Arbeitspapier einigen können.
Sein Vertrag läuft ebenfalls 2018 aus. Ein Özil in Bestform hebt seine Mitspieler auf ein höheres Niveau, aber momentan wirkt er ein wenig überspielt, arm an Selbstbewusstsein.
Özil als Sündenbock?
Und aus dem Verein beschweren sich anonyme Informanten in den englischen Zeitungen über eine angebliche Bevorzugung des Ex-Schalkers durch Wenger. Die Kampagne zielt ohne Frage darauf ab, ihn als potenziellen Sündenbock für ein vorzeitiges Saisonende in Stellung zu bringen; vielleicht lenkt sie auch ein wenig die Aufmerksamkeit weg von Wenger.
Özil kann dieser Dynamik nur mit einem überzeugenden Auftritt entgegenwirken.
Unter dem Strich ist die Situation sehr kurios. Niemand, nicht mal Arsène Wenger selbst, kann drei Monate vor Saisonende sagen, ob es mit Wenger und den beiden besten Leuten in seinem Team 2017/18 weiter geht. Das macht die Ausgangslage so spannend.
Einmal München und zurück - dann wird man in Nordlondon mehr wissen.
Raphael Honigstein, geboren 1973 in München, zog 1993 nach London. Dort lebt und arbeitet er als Journalist und Autor. Für SPORT1 berichtet er ab sofort in der wöchentlichen Rubrik "London Calling" über alle Themen rund um den englischen Fußball. Honigstein arbeitet unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung", das Fußballmagazin "11 Freunde", die englische Tageszeitung "The Guardian", den Sportsender "ESPN" und ist in England und Deutschland als TV-Experte tätig.