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Raphael Honigstein: Wenn 71.000 in Wembley die Marseillaise singen

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Raphael Honigstein: Wenn 71.000 in Wembley die Marseillaise singen

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Ein Match wie in Trance

SPORT1-Kolumnist Raphael Honigstein hat miterlebt, wie 71.000 in Wembley für Paris sangen. Ein Moment voll emotionaler Wucht, die Beklemmung aber bleibt.
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© SPORT1 / Getty Images

"Bitte melden Sie unbeaufsichtigte Gegenstände oder verdächtiges Verhalten", sagt die freundliche Frauenstimme in der U-Bahn.

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Die Durchsage kommt vom Band, sie kam in den vergangenen 25 Jahren tausende Male. In den frühen Neunzigern ließ die IRA öffentliche Verkehrsmittel hochgehen, seitdem werden die Passagiere unter Tage penetrant zur Wachsamkeit angehalten und müssen leere Flaschen und Chips-Tüten mit sich herumschleppen. Um Bombenlegern das Handwerk zu erschweren, wurden in den "Tube"-Stationen die Mülleimer abgeschafft.

Man hört als Londoner normalerweise über die automatisierten Warnungen routiniert hinweg, sie sie sind Teil des Rahmenprogramms, ähnlich den Sicherheitshinweisen im Flugzeug vor dem Abflug, von denen auch keiner glaubt, dass sie tatsächlich gebraucht werden könnten.

Am frühen Dienstagabend aber bohren sich in der "Jubilee-Line", die vom Bankenviertel Canary Wharf im Südosten quer durch die Stadt in den Nordwesten nach Wembley fährt, die Worte "unbeaufsichtigt" und "verdächtig" plötzlich unangenehm in die Stelle im Kopf, wo die bösen Gedanken sich vermehren. Das Handy erzählt stumm sehr beunruhigende Geschichten, von einsamen Koffern und Stadionräumungen in Hannover.

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Es wäre übertrieben zu sagen, dass nun die Angst mitfährt. Doch man ertappt sich dabei, wie man auf Grund der Nachrichten aus Deutschland, ohne es wirklich zu wollen, die zusteigenden Gäste mustert. Sieht der Typ mit der Kapuze und Bart nicht irgendwie nervös aus? Was hat der junge Kerl da im Rucksack?

Der Anflug von Paranoia erinnert einen selbst an die Tage nach den Anschlagen am 7. Juli 2005, als vier islamistische Terroristen drei U-Bahn-Züge und einen Bus in die Luft sprengten. 52 Tote, 700 Verletzte. Damals war allerdings der Fußball nicht betroffen und noch dazu Sommerpause. Bis die Saison wieder losging, hatte sich die Lage wieder beruhigt. 

Wembley Park. Tausende strömen aus den Zügen, merkwürdigerweise gänzlich unbehelligt. Die Bahnsteige sind wohl zu eng, um Sicherheitsbeamte zu stationieren. Vor der Treppe hinunter zum Wembley Way bleiben die Leute stehen, um den als Zeichen der Solidarität mit den Gästen blau-weiß-rot beleuchteten Stadion-Bogen fotografieren. "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" steht in Französisch darunter.

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Alle paar hundert Meter stehen Polizisten mit Maschinengewehren an der Seite des Fußgängerweges Wache. Ein ungewohntes Bild auf der Insel, nicht nur vor Fußballstadien. Nur etwa 2000 der gut 30.000 Polizisten in der Hauptstadt tragen Schusswaffen. Die Stimmung ist dessen ungeachtet allgemein entspannt. Es liegt eine gewisse Feierlichkeit in der Luft; das Bewusstsein, einer besonderen, einzigartigen Gelegenheit beizuwohnen.  Englische Fans posieren mit der Tricoleur, Franzosen mit Bannern, auf denen sie der Welt für die Anteilnahme danken.

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Im Stadioninneren hätte ursprünglich alles rosa sein sollen. Das Match war als Benefizspiel für die Brustkrebshilfe geplant, doch die Organisation hatte die Aktion nach den Terrorattacken in Paris abgesagt. Eine zweite Ebene hätte das Spiel vollends überfrachtet. 

Als die beiden Trainer, Roy Hodgson und Didier Deschamps, zusammen mit Prinz William, dem (Ehren-)Präsidenten des englischen Verbandes, Gedenkkränze für die Opfer an den Spielfeldrand legen, und auch Premierminister David Cameron namentlich vorgestellt wird, bleiben die bei dieser Gelegenheit üblichen Pfiffe für Politiker und Würdenträger aus. Man sieht den französischen Spielern und Offiziellen Dankbarkeit und Erschöpfung an. 

Dann die Marseillaise, der mutmaßliche Höhepunkt der Zeremonie. Viele Einheimische wollen mitsingen. Die Wörter der sehr blutrünstigen Nationalhymne werden auf den Videotafeln eingeblendet, aber man hört kaum das Publikum, der Chor "Les Fauristes" ist zu dominant. Umso lauter schreien die Zuschauer, trotzig, gerührt, zustimmend, als die Spieler Arm in Arm zu einem gemischten Teamfoto antreten. Kein einziger besoffener Krakeeler stört daraufhin die Schweigeminute. 71.000 Menschen sind so still, dass man die Lüftungsanlagen im Stadion surren hört. Und das Knattern des Polizeihubschraubers, oben, im Windsturm.

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Das Spiel selbst  kann der emotionalen Wucht dieses Moments naturgemäß nichts mehr hinzufügen. In der zweiten Hälfte erheben sich die Zuschauer aus ihren Sitzen, um dem eingewechselten Lassana Diarra für seine Courage zu applaudieren, die Cousine des Mittelfeldspielers kam am Freitagabend in der Rue Bichat ums Leben. Diarra, 30, spielt das Match wie in Trance, er steht wie viele seiner Kollegen nicht richtig auf dem Platz.

Lange vor dem Schlusspfiff sind die meisten Besucher schon wieder gegangen, sie wollen das Gedränge in der U-Bahn vermeiden. Die französischen Fans aber sind noch da, mit ihren Fahnen und ihren Gesängen, und die "England Supporters Band", die recht nervige Blaskapelle, die seit Jahren jedes Länderspiel der Männer mit den "Drei Löwen" akustisch begleitet, stimmt ein letztes Mal die Marseillaise an, um die Gäste zu verabschieden. Diese sind sichtlich froh, dass es vorbei ist. 

Man habe ein Zeichen gesetzt, beherzt gemeinsam gegen Trauer und Angst angespielt, wird es am nächsten Tag stolz in den Gazetten heißen; "Freiheit ist der Gewinner", wird der Mirror titeln. Alles wahr. Doch auf dem Weg zurück in der U-Bahn, inmitten von nachdenklichen Gesichtern, fühlt es bei Weitem nicht so toll an. Eher nach einem Unentschieden. 

Raphael Honigstein, geboren 1973 in München, zog 1993 nach London. Dort lebt und arbeitet er als Journalist und Autor. Für SPORT1 berichtet er ab sofort in der wöchentlichen Rubrik "London Calling" über alle Themen rund um den englischen Fußball. Honigstein arbeitet unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung", das Fußballmagazin "11 Freunde", die englische Tageszeitung "The Guardian", den Sportsender "ESPN" und ist in England und Deutschland als TV-Experte tätig.