Manny Pacquiao war kurz davor, den großen Kampf mit all seinem Drum und Dran stehen und liegen zu lassen.
Der 100-Millionen-Menschen-Mann
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Es war der November 2013, der Taifun Haiyan war über sein Land geweht. Tausende Menschen waren gestorben auf den Philippinen, Millionen hatten ihr Zuhause verloren. Was konnte da dringender geboten sein, als die Vorbereitungen auf sein Duell gegen Brandon Rios zu unterbrechen? Ins Katastrophengebiet zu fliegen, den Menschen Beistand zu leisten?
Es war sein Umfeld und Management, das ihn am Ende von einem anderen Argument überzeugte: dass er den Menschen in seinem Land am besten helfen könne, indem er sich voll auf seinen Kampf konzentriere.
Ein zurechtgebogener Gedanke, könnte man meinen. In Pacquiaos Fall dürfte er aber genauso gestimmt haben: Wenn Manny Pacquiao in den Ring steigt, geht es um mehr als um ein sportliches Ereignis, so war es damals, so ist es heute, kurz vor dem lang erwarteten "Jahrhundertkampf" der Weltergewichts-Weltmeister gegen Floyd Mayweather in der Nacht zum Sonntag (ab 4.30 Uhr LIVETICKER).
"Eine Einheit schaffende Macht"
"Was er für die Philippinen verkörpert, gibt es nicht in Deutschland. Pacquiao hat einen fast gottgleichen Status", sagt Stephan Schröck, Fußballer bei der SpVgg Greuther Fürth und Halb-Filipino, bei SPORT1.
"Eine Einheit schaffende Macht" nennt ihn Christoph Antweiler, Professor für Südostasienwissenschaft an der Universität Bonn.
Man muss dazu wissen, dass das Schaffen von Einheit in kaum einem Land der Welt schwieriger ist als auf den Philippinen.
Das Land ist zerrissen
Rund 100 Millionen Menschen leben dort auf 7107 Inseln, Zerrissenheit charakterisiert das Archipel im Pazifischen Ozean längst nicht nur geographisch: Es ist ethnisch gespalten, religiös, politisch, wirtschaftlich.
"Es gibt ein Nebeneinander von demonstrativem Luxuskonsum auf der einen und extremer Armut auf der anderen Seite", erklärt Antweiler.
Wie extrem, weiß Schröck, dessen Familie aus einer Gegend nicht weit weg von der Heimat Pacquiaos stammt: "Es ist, als ob da jemand vor 200 Jahren auf Stopp gedrückt hätte. Es geht dort nicht darum, ob man dem zweiten Kind noch eine Ferienfahrt finanzieren kann - sondern darum, ob das dritte oder vierte noch ein Abendessen bekommt."
Ein Aufstieg, der inspiriert
In diese Verhältnisse wurde Pacquiao 1978 hineingeboren, in die Kleinstadt Kibawe auf der von einem Bürgerkrieg geplagten Insel Mindanao. Und die Verantwortung, für andere zu sorgen, fiel ihm früh zu, als sein Vater die Familie verließ.
Die Mutter konnte Manny und die fünf Geschwister nicht allein ernähren, er verließ die Schule, zog in die Hauptstadt Manila, lebte auf der Straße und kämpfte dort für das Auskommen seiner Angehörigen.
Dass er es von diesem Punkt aus nach ganz oben gebracht hat, zum Champion in sieben Gewichtsklassen, zu einem der größten Athleten der Welt, ist eine Entwicklung, die inspiriert, Hoffnung vermittelt. Und an der in seinem Land praktisch jeder Anteil nehmen will.
"Pacman", der Universal-Popstar
"Er hat keine ruhige Minute", sagt Schröck, der Pacquiao zweimal bei Preisverleihungen begegnet ist: "Andauernd wollen die Leute Fotos mit ihm machen, Interviews mit ihm führen, die ganze Zeit. Er selber wirkt dabei so, als ob es ihm eher unangenehm, fast peinlich ist, so verehrt zu werden."
Das gegenteilige Bild sei zu sehen, wenn Pacquiao boxt: "In Manila, wo 12 Millionen Menschen wohnen, siehst du niemanden auf der Straße. Du denkst, es ist Ausgangssperre."
Boxen war schon vor Pacquiao populär in der früheren US-Kolonie, die unter allen asiatischen Ländern die amerikanische Kultur wohl am meisten aufgesogen hat. Nicht umsonst holte Ex-Diktator Ferdinand Marcos 1975 zur Stimmungsförderung Muhammed Ali und Joe Frazier zum Thrilla in Manila ins Land. Mit Pacquiaos Hilfe ist Boxen auf den Philippinen der Volkssport geblieben, der er in Amerika gar nicht mehr ist.
Wobei Pacquiao gar nicht boxen muss, um in seiner Heimat omnipräsent zu sein. "Wenn man durchs philippinische Fernsehen zappt, laufen garantiert immer drei Dinge: evangelikale Predigten, Verkündungen der Regierung - und Manny Pacquiao", sagt Antweiler.
"Pacman" ist in seiner Heimat längst ein Universal-Popstar, er war Model und Schauspieler, er ist TV-Moderator, Sänger, Besitzer eines Basketballteams, Unternehmer. Vergangene Skandale - Affären, Alkoholprobleme und Glücksspiel - lieferten Stoff für die Klatschpresse. Mittlerweile hat er sie hinter sich gelassen und ist selbst auch noch evangelikaler Prediger und Politiker geworden.
2010 gelang es ihm im dritten Anlauf, in den Kongress gewählt und Provinz-Regierungschef zu werden, nach Meinung von Beobachtern nur deshalb, weil er versprach, seine Box-Karriere dafür nicht aufzugeben.
Der boxende Landesvater
Pacquiao wird trotzdem nicht nur für seinen sportlichen Erfolg verehrt, sondern auch dafür, dass er seinem Land die Früchte seines Erfolges zurückgibt.
"Je mehr Geld ich bekomme, umso mehr Gutes kann ich für andere tun", sagte er kürzlich der Welt am Sonntag. Große Teile seiner Kampfbörsen spendet Pacquiao an soziale Projekte, packt bei Hilfsaktionen mit an, auch wenn keine Kameras laufen. Sein Engagement geht weit über gewöhnliche Wohltätigkeits-PR hinaus - und ist andererseits doch untrennbar mit der Inszenierung verbunden.
Pacquiao, der selbstlos anmutende Familien- und Landesvater, gegen Mayweather, den protzigen Selbstdarsteller: Es ist eine der zahllosen Geschichten, die in diesem Kampf stecken.
Neben der boxerischen, der vom leidenschaftlich nach vorne kämpfenden Pacquiao und dem kühlen Defensiv-Strategen Mayweather. Neben der persönlichen, in der Pacquiao Mayweather noch seine rassistischen Ausfälle aus dem Jahr 2010 heimzuzahlen hat. Neben der politischen, in der der Nationalheld der 100 Millionen antritt gegen den Vertreter der früheren Kolonialmacht.
"Asien und die Emotion, Amerika und die Taktik", so in etwa wird nach Antweilers Angaben der Kampf gesehen in Pacquiaos Heimat.
Es ist schon wieder weit mehr als nur ein sportliches Ereignis.