Severin Freund gehört auch in den Momenten des Erfolgs eher zu den stillen Genießern.
Mit Pilotentrick aus Hannawalds Schatten
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Nach seinem historischen Sieg beim Auftaktspringen der Vierschanzentournee in Oberstdorf schlug er weder Saltos noch startete er eine große Partynacht.
Er spendierte seinem Physiotherapeuten einen Whiskey an der Hotelbar und dann ging es bald ins Bett, der Blick geht bei dem 27-Jährigen schon Richtung Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen (Freitag, 14 Uhr im LIVETICKER).
Bundestrainer Werner Schuster aber beschäftigte sich am Mittwochmorgen noch mit den Geschehnissen des Vorabends und betonte noch einmal die Bedeutung von Freunds Sieg.
"Damit emanzipiert er sich von Hannawald und Schmitt", verwies er auf die Durststrecke, die Freund beendet hatte.
Schuster zieht Vergleiche mit Tennis
Erstmals nach 13 Jahren hatte wieder ein Deutscher den Wettbewerb von Oberstdorf gewonnen und damit die Sehnsüchte der Skisprung-Nation nach einer Wiederbelebung der goldenen Zeiten gestillt.
Schuster erlebt die Vergleiche mit der Zeit Anfang des Jahrtausends seit seiner Amtsübernahme im Jahr 2008. Und er kann nicht verhehlen, dass sie ihn zum Teil nerven.
"Das macht die Sache nicht leichter, fragen Sie mal die Tennisspieler", wagte er einen Vergleich mit einer anderen Sportart, wo noch immer auf einen deutschen Wimbledonsieger und einen Nachfolger von Boris Becker und Michael Stich gewartet wird.
Die ständigen Vergleiche mit den Helden der Vergangenheit würden einen zusätzlichen Druck aufbauen.
"Das macht den Erfolg umso wertvoller, es steht schon mal was auf der Habenseite", sagte Schuster deshalb.
Schmerz von 2014 überwunden
Dem Coach selbst fiel nach Freunds Sieg am Dienstag Abend eine zentnerschwere Last von den Schultern.
Zu oft war in den letzten Jahren der Tourneeauftakt aus deutscher Sicht misslungen.
Besonders schmerzhaft war es vor zwölf Monaten. Schon damals gehörte Freund zu den Mitfavoriten auf den Tourneesieg und hielt schon beim Start dem großen Druck nicht Stand.
Die öffentliche Kritik fiel hart aus, der Boulevard schrieb von "Suppenhühnern".
"Das hat schon wehgetan letztes Jahr", blickte Schuster zurück.
Tournee-Simulation im Sommer
So etwas wollte der Bundestrainer nicht noch einmal erleben und überließ in der Sommervorbereitung diesmal nichts dem Zufall.
Er ließ seine Athleten sogar die Tournee komplett einmal durchspringen, mit der analogen Anzahl an Wettbewerbssprüngen und -tagen.
Selbst die Hotelbetten waren die gleichen wie im Winter. Eine Art sommerliche Flugsimulation wie in der Pilotenschule.
"Es ging vor allem darum ein Zeichen zu setzen, die Abläufe der Tournee in den Köpfen zu verankern, um mit einem Gefühl der Sicherheit reinzugehen", beschrieb Schuster auf SPORT1-Nachfrage die ungewöhnliche Maßnahme.
Doch trotz perfektionistischer Vorbereitung ereilte Schuster am Dienstag kurzzeitig ein Deja-Vu. Wieder erwischte Freund keinen optimalen ersten Sprung.
"Da habe ich mir gedacht: Um Gottes Willen."
Aber die Folgen waren diesmal nicht so drastisch, der Rückstand Freunds auf die Spitze hielt sich als Fünfter in Grenzen.
Freunds Teamkollegen als "Eisbrecher"
Und im Zweiten Durchgang zahlte sich mal wieder die gute alte deutsche Tugend vom Mannschaftsgeist aus.
Andreas Wank, Andreas Wellinger und Stephan Leyhe betätigten sich als "Eisbrecher", wie es Schuster bezeichnete.
Mit einer klaren Leistungssteigerung sorgten sie für eine deutsche Dreifach-Führung und versetzten die Erdinger-Arena in Ekstase.
Freund bekam all das im deutschen Container mit und gewann dadurch ein Stück Gelassenheit.
"Für Severin war das ein gutes Zeichen, wenn er sieht, dass das deutsche Team insgesamt schon mal besser dasteht als im letzten Jahr", erklärte Wank, der sich noch auf Rang 13 verbessert hatte.
"Mit jedem Erfolg stärker"
Der Teamgeist hatte schon zum bislang größten deutschen Skisprung-Erfolg in den letzten Jahren geführt, der Goldmedaille im Mannschaftswettbewerb von Sotschi.
Für Freund war der Olympiasieg in den russischen Bergen ein Türöffner, wie Schuster bestätigt.
Vom hadernden Zweifler, der im entscheidenden Moment scheiterte, wandelte er sich dadurch zum Siegspringer.
"Er ist ein spezieller Charakter, er wird mit jedem Erfolg mental stärker", erklärt Schuster den Typus Freund.
"Andere fallen nach dem Erreichen eines Zieles in ein tiefes Loch, er wird mit Erreichen eines Zieles freier", fügte er hinzu.
Auch deshalb besteht die Hoffnung, dass Freund bei den nächsten drei Tourneespringen sogar zulegen wird - auch wenn ihm die Schanzen von Garmisch-Partenkirchen und Innsbruck nicht besonders liegen.
Schuster startete schon einmal eine Kampfansage Richtung Widersacher Peter Prevc aus Slowenien: "Der Druck auf ihn muss aufrechterhalten werden. Am Dienstag wurde sein Selbstvertrauen schon mal etwas angeknackst."