Heute reichen schon ein paar Fluppen in den Duschen einer Kabine für einen kleinen Aufruhr, ein Schnupftabak konsumierender Kicker ist schon ein mittelgroßer Skandal, und wehe, ein Fußballer raucht Zigaretten!
Der Raucher und der Hoffnungsträger
© SPORT1-Grafik: Paul Hänel/Getty Images
Diesen Eindruck musste man in den ersten Wochen der EM gewinnen. Der Bild war es eine große Geschichte wert, dass ein Leserreporter nach dem Spiel gegen Deutschland einige Zigarettenkippen auf dem Boden der ukrainischen Kabine gefunden hatte.
Als Englands Jamie Vardy mit Schnupftabak erwischt wurde, stellte die Nachrichtenagentur SID klar, dass Nikotin in zigarettenüblichen Mengen nicht als Dopingmittel gelte.
Und Radja Nainggolan kam nicht in die Schlagzeilen, weil er in einer enttäuschenden belgischen Mannschaft noch zu den Besten gehörte, sondern weil sein Trainer Marc Wilmots zugab, dass der volltätowierte Spieler hin und wieder eine durchzieht.
Santos hilft Rauchen beim Nachdenken
Einer dürfte über den ganzen Wirbel um das ungesunde Laster nicht einmal müde lächeln: Fernando Santos dürften weder Gestank, Raucherhusten, Nichtraucher, Schock-Bildchen und schon gar nicht das schlechte Image vom Quarzen abhalten.
Portugals Trainer, der seine Mannschaft am Mittwoch im EM-Halbfinale gegen Wales (ab 20 Uhr LIVE in unserem Sportradio SPORT1.fm und im LIVETICKER) ins Finale führen will, ist der leidenschaftlichste Raucher der EM. "Rauchen hilft mir beim Nachdenken", sagte der 61-Jährige mal, "ich rauche vielleicht so viel, weil ich so viel über Taktik nachdenke".
Santos raucht auf seinem Zimmer, er raucht in der Kabine und beim Training. Nur nicht mehr während der Spiele. Auf der Bank ist Rauchen seit einigen Jahren verboten - ob Portugal sich deswegen bisher eher lätschern durchs Turnier gequält als gespielt hat?
Santos verpasste seiner Mannschaft zwar bei jedem Spiel eine andere taktische Ausrichtung, wirklich begeistern konnten Cristiano Ronaldo und Co. aber nie, geschweige denn eine Partie gewinnen. Portugal scheint sich nur mit Unentschieden zum Titel quälen zu wollen.
Ganz anders Wales. Die Mannschaft von Chris Coleman ist der einzige verbliebene Außenseiter im Turnier - und begeisterte nicht nur beim 3:1 gegen Belgien mit ihrem leidenschaftlichen, schnörkellosen und kämpferisch wertvollen Fußball. Zusammen mit Italien und Island hat sich Wales als homogenste und eingeschworenste Truppe des Turniers präsentiert. Eine echte Einheit, in der auch Superstar Gareth Bale nicht die Diva heraushängen lässt.
Coleman führt Wales aus der Schockstarre
Dass das so ist, hat viel mit Trainer Coleman zu tun, der die Mannschaft 2012 übernommen hat - in einer der schlimmsten Stunden des walisischen Fußballs überhaupt. Im November 2011 hatte sich Gary Speed umgebracht, Colemans Kumpel und damals amtierender Nationaltrainer.
Ganz Wales befand sich im Schockzustand. Coleman, damals Trainer in Griechenland, erinnert sich nur noch vage: "Ich war Trainer in Larissa, kurz vor Anpfiff vibrierte mein Handy. Ein Freund schrieb: 'Schreckliche Nachrichten. Speed hat sich umgebracht'. Das folgende Spiel habe ich wie in einem Nebel erlebt", sagte er bei der EM.
Zwei Monate später übernahm er Speeds alte Mannschaft, noch heute denkt er jeden Tag an seinen Freund. "Speed könnte jetzt auch hier sitzen und genießen, was wir genießen. Leider ist das nicht möglich", sagte er. Doch am Mittwoch werde auch Speed "irgendwie" mit dabei sein.
Damals startete Coleman mit fünf Niederlagen hintereinander. Nach einem 1:6 in Serbien wollte er hinschmeißen. Die Spieler beknieten ihn zu bleiben - und dann kam die Wende: "Wir waren am Ende, am Nullpunkt. Wir konnten endlich neu anfangen und alles hinter uns lassen", so Coleman.
Radikaler Neuanfang
Coleman änderte alles. Die Mannschaft schlief in anderen Hotels als vorher, es gab neue Abläufe, er machte Ashley Williams statt Aaron Ramsey zum Kapitän, führte neue Trainingsformen ein - und die Mannschaft begann ihren Höhenflug.
"Chris wollte nicht zu schnell alles ändern. Aber seit er dem Team seinen Stempel aufgedrückt hat, ist er einfach unglaublich", sagt Bale, "er hat jeden Stein umgedreht, und jetzt zahlt es sich aus."
So sehr, dass Coleman Begehrlichkeiten geweckt hat bei größeren Verbänden, vornehmlich bei der FA, dem englischen Fußballverband. Doch auf England hat Coleman keinen Bock. "Niemals im Leben" würde er als englischer Nationaltrainer arbeiten, sagte er, "ich werde daran keinen Gedanken verschwenden. Ich bin Waliser durch und durch. Für mich kommt nur Wales infrage. Mein nächster Job nach Wales, wann immer dies sein wird, wird mich ins Ausland führen."