Die letzten Vergaben der Weltmeisterschaften nach Russland und Katar sind Warnung genug.
EM-Vergabe: Darauf kommt es an
Wenn am Donnerstag in Nyon (EM 2024: Die Vergabe ab 14.45 Uhr im LIVESTREAM und LIVETICKER) der Zuschlag für die EM 2024 erteilt wird, ist die Entscheidung der UEFA für den Deutschen Fußball-Bund alles andere als ein Selbstläufer.
DFB-Präsident Reinhard Grindel führt Stabilität und Erfahrung als Argumente für das nächste Großturnier nach dem - inzwischen mit Schatten behafteten - Sommermärchen 2006 an.
Für Grindel und den DFB steht nach dem sportlichen WM-Debakel in Russland und den Wirren um den zurückgetretenen Mesut Özil viel auf dem Spiel. Grindels persönliches DFB-Schicksal könnte durchaus mit der EM-Vergabe verknüpft sein. Zudem hätte der Verband "nur" noch seine 150 Millionen Euro teure Akademie als Zukunftsprojekt. Nicht gerade das, was die Massen begeistert.
Und die Türkei um ihren politisch umstrittenen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan wirft als Konkurrent um die Austragung ein gewichtiges Pfund in die Waagschale.
Was spricht für Deutschland, was für die Türkei? SPORT1 bewertet die Chancen der beiden Bewerber.
Motto
Hier unterscheiden sich beide Bewerbungen kaum. Dem deutschen "United by Football" stellt der türkische Verband TFF sein Motto "Share together" entgegen. Beide Verbände unterstreichen das verbindende Element des Fußballs.
Botschafter
Philipp Lahm ist das prominente Gesicht der deutschen EM-Bewerbung. Im Falle des Zuschlags würde der Weltmeister-Kapitän von 2014 zum Turnierdirektor aufsteigen. Delegationsleiter Grindel verfügt als Vizepräsident der UEFA über entsprechenden Einfluss.
DFB-Bewerbungschef Markus Stenger arbeitete in den vergangenen Monaten mit einem recht kleinen Team hinter den Kulissen. Nach dem Skandal um die WM 2006 legte der DFB diesmal viel Wert auf Transparenz.
Für die Türkei machen sich viele ausländische Stars der Süper Lig wie Samuel Eto'o, Robinho oder Emmanuel Adebayor stark.
Verbandspräsident Yildirim Demirören, ein Vertrauter Erdogans, steht für die dunklere Seite der Bewerbung. Seine Holding hat die letzte unabhängige Mediengruppe Dogan Media Group (Tageszeitung Hürriyet, Sportmagazin Fanatik, CNN Türk) übernommen und auf Linie gebracht.
Demirörens Vize Servet Yardimci, Multimillionär und Chef der Bewerbung, war sich im Vorfeld der Entscheidung nicht zu schade, die Causa Mesut Özil für seine Zwecke zu benutzen. "Es ist eine internationale Geschichte geworden und sehr unglücklich", sagte er, "ich hoffe, das wirkt sich zu unseren Gunsten aus."
Organisation
Ein wichtiger Punkt für den DFB. Grindel verweist auf "die Erfahrung in der Organisation großer Turniere", setzt auf Zuverlässigkeit. Die WM 2006 darf organisatorisch durchaus als großer Erfolg angesehen werden. Auch wenn natürlich nachträglich ein großer Schatten auf dem Turnier liegt.
Die UEFA könne sich "im Falle eines Zuschlags für uns darauf verlassen, dass wir 2024 eine EURO erleben werden, die die Entwicklung des Fußballs in Europa voranbringt", sagte Grindel. Die UEFA-Administration hatte dem DFB in ihrem Evaluierungsbericht das bessere Zeugnis ausgestellt.
Gespielt würde in den zehn Stadien in Berlin, München, Düsseldorf, Stuttgart, Köln, Hamburg, Leipzig, Dortmund, Gelsenkirchen und Frankfurt/Main. Alle Stadien befinden sich in einen hervorragenden Zustand, sind mit Ausnahme des Berliner Olympiastadions reine Fußball-Arenen.
Der DFB rechnet mit 2,78 Millionen Zuschauern, 290.000 mehr als die Türkei.
Die Türkei kann noch keine Erfahrung bei der Austragung eines Fußball-Großereignisses vorweisen. Dreimal scheiterte der Verband (2008, 2012, 2016). Nun sei man "an der Reihe, um die Bühne zu betreten", sagte Nationaltrainer Mircea Lucescu.
Für Staatspräsident Erdogan, früher selbst ein talentierter Fußballer, ist die EM ein ganz persönliches Prestigeobjekt. Mit seinen guten Verbindungen in die Baubranche hat er viele Stadien sanieren oder neu errichten lassen.
Die UEFA hat aber scheinbar ihre Zweifel, ob die noch geplanten und nötigen Milliarden-Investitionen in die Infrastruktur nicht der Wirtschafts- und Finanzkrise zum Opfer fallen könnten.
Wahl-Gremium der EM 2024
Die Entscheidung treffen bis zu 17 Funktionäre aus 15 Ländern in einer geheimen Wahl. Bei Stimmgleichheit ist das Votum von UEFA-Präsident Ceferin ausschlaggebend. Der Slowene, dem gute Beziehungen zum DFB nachgesagt werden, könnte dann auch losen.
Die Zusammensetzung des Exkos mit vielen Wahlmännern (und einer Frau) aus Westeuropa spricht eher für den DFB. Von "sicheren" Stimmen kann aber weder Deutschland noch die Türkei ausgehen.
Fans
Die WM 2006 in Deutschland war auch ein großes Fan-Fest. Grindel verspricht das nächste "unvergessliche Erlebnis für alle Fans."
Das sah in der englischen Woche in der Bundesliga am Dienstag und Mittwoch etwas anders aus. Ein Stimmungsboykott der Anhänger, als Protest gegen Grindel und die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs, hatte in den ersten 20 Minuten für gespenstische Stille gesorgt. Nicht gerade Werbung für die EM.
Die Fans in der Türkei sind als besonders heißblütig bekannt. Gut für Stimmung und Atmosphäre. Birgt aber auch Gefahren. Erdogan verspricht "übervolle Stadien."
Finanzen
"Wir bieten wirtschaftliche Stabilität und ein Nachhaltigkeitskonzept", sagt Grindel. Ob das reicht?
Erdogan, der am Donnerstag zum Staatsbesuch in Deutschland eintrifft, verspricht der UEFA Steuerfreiheit und riesige Gewinne.
Die Arenen - dieser angeblich "westliche" Begriff steht bei Erdogan auf dem Index - sind in Staatshand und sollen 2024 mietfrei genutzt werden können. Geschenke, die die Bundesregierung verweigert hat.
UEFA-Präsident Aleksander Ceferin hatte zuletzt im ZDF bekräftigt, wie enorm wichtig hohe Gewinne für den Dachverband seien.
Fraglich ist allerdings, ob die Türkei angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise alle Versprechen halten kann. Grindel sieht mit Argwohn, dass die Mitbewerber "so ziemlich alles garantieren, was nicht niet- und nagelfest ist" – wie er am Rande des Länderspiels in München Anfang September sagte.
Politik
Grindel verspricht auch "politische Stabilität".
Die politische Großwetterlage spricht eigentlich klar gegen die Türkei. Erdogans Machtausweitung, die Verhaftung Zehntausender Oppositioneller, die zunehmende Kluft zur EU, die stark eingeschränkte Pressefreiheit - all das sieht auch die UEFA. Der Evaluierungsbericht nennt das "Fehlen eines Aktionsplans in Sachen Menschenrechte problematisch".
Die politischen Missstände müssen - siehe die zweifelhaften WM-Vergaben an Russland und Katar - aber längst kein Ausschlusskriterium sein.