Es ist noch nicht vorbei, aber das Ende ist nun zumindest absehbar.
Das ist Contes Meisterformel
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"Uns fehlen noch 18 Punkte", rechnete Antonio Conte nach dem 2:1-Sieg gegen Manchester City hoch.
Das war als Warnung an die eigene Belegschaft gemeint ("Wir müssen davon ausgehen, dass Tottenham die restlichen Spiele allesamt gewinnt", so der Italiener), gibt aber angesichts des vergleichsweise leichten Restprogramms auch ein äußerst machbares Ziel ab.
Chelseas Sieg gegen City im Video:
Chelsea so gut wie Meister
Chelsea, das seit Ende Oktober 17 seiner 21 Ligaspielen gewonnen hat, müsste im Schlussspurt schon regelrecht zusammen brechen, um noch ernsthaft in Gefahr zu geraten. Sieben Punkte Vorsprung auf die Tabellenzweiten, die Spurs von Trainer Mauricio Pochettino, sollten an dieser Stelle reichen.
Conte, der designierte Meistermacher, kokettierte am Mittwochabend an der Stamford Bridge mit seinen angeblich ungenügenden Sprachkenntnissen.
"Ich lerne Englisch, bin aber damit nicht in der Lage, die Mannschaft großartig zu motivieren", sagte der 47-Jährige mit einem verschmitzten Lächeln, "also versuche ich es mit den Händen."
Große Gewinner, die sich selbst kleiner machen, kommen auf der Insel gut an, selbst wenn sie so offensichtlich flunkern wie Chelseas Coach.
Motivationskünstler und Taktikfuchs
Jeder weiß ja, dass sich Conte, gutes Englisch hin oder her, in seinem ersten Jahr im Ausland als wahrer Motivationskünstler erwiesen hat. Die Mannschaft, die er im Sommer übernahm, hatte die Saison zuvor auf Platz zehn abgeschlossen.
Wichtige Spieler wie Eden Hazard oder Nemanja Matic wirkten völlig ausgelaugt; andere, allen voran Stürmer Diego Costa, wollten so schnell wie möglich weg.
Obwohl Conte seinen Wunschspieler Radja Nainggolan (AS Rom) nicht bekam und die Rückhol-Aktion von David Luiz eher eine Notlösung war, schaffte es der Ex-Juventino, die Truppe mit geradlinigem Man-Management auf das Leistungsniveau der Meistersaison 2014/15 zurück zu hieven, wobei sich vor allem die taktische Neuausrichtung auf ein variables 3-4-3 nach der 0:3-Niederlage beim FC Arsenal im September als vertrauensbildende Maßnahme erwies.
Anstatt seine Elf öffentlich zu kritisieren, führte Conte zur Halbzeit der Partie im Emirates eine Dreier-/Fünferkette ein, die sofort funktionierte. Die Spieler hatte er damit auf seiner Seite, und dem Rest der Liga bereitete das System derart große Schwierigkeiten, dass es stilbildend wirkte.
Mehr Pausen als entscheidender Vorteil
"Conte hat das taktische Vokabular des englischen Fußballs vergrößert", sagte der ehemalige Arsenal-Verteidiger Martin Keown vergangene Woche, nachdem Gareth Southgates England in der Conte-Formation gegen Deutschland aufgelaufen war.
Chelsea profitiert wie der FC Liverpool von Jürgen Klopp davon, nicht europäisch beansprucht zu werden. Ein Spiel pro Woche macht es gerade den "wing-backs", den körperlich besonders geforderten Leuten auf den Außenpositionen leichter, mit der Kraft zu haushalten.
Aber auch den beiden Stars in der Offensive, Hazard und Diego Costa, kommt das System entgegen. Sie müssen nicht vorne pressen, sondern können bei Ballverlust durchatmen, sich in 90er-Jahre-Serie-A-Manier ganz auf die ein, zwei, drei entscheidenden Momente in der Spitze konzentrieren.
Klüger und kühler als jemals zuvor
Contes "Blues" dominieren selten ganze Partien, von Passivität geprägte Phasen und Spielfeldbereiche sind Teile des Programms.
Der Anspruch ist nicht, den Gegner in Grund und Boden zu spielen, sondern ihm auf der einen Seite mit einer top organisierten Defensive den Nerv zu rauben, um ihn dann auf der anderen Seite mit choreographierten Angriffszügen zu schlagen. Klüger und kühler hat in der Premier League niemand gespielt.
In der nächsten Saison werden sich die Mannschaften besser auf Contes Konzept einstellen, Chelsea wird individuell aufrüsten müssen, um gegen die Konkurrenz zu bestehen. Bis dahin kann sich der Mann mit den schmalen Krawatten an der Seitenlinie jedoch erstmal feiern lassen.
Er hat den Wettstreit der Supertrainer (so gut wie) gewonnen. Mit dem stringentesten System und einer Mannschaft, die an ihrem absoluten Limit spielt.
Raphael Honigstein, geboren 1973 in München, zog 1993 nach London. Dort lebt und arbeitet er als Journalist und Autor. Für SPORT1 berichtet er in der wöchentlichen Rubrik "London Calling" über alle Themen rund um den englischen Fußball. Honigstein arbeitet unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung", das Fußballmagazin "11 Freunde", die englische Tageszeitung "The Guardian", den Sportsender "ESPN" und ist in England und Deutschland als TV-Experte tätig.