Manch einer zahlt viel Geld, damit sein Körper aussieht wie ein Gemälde. Patrick Wiencek bekommt bei der Handball-WM den Expressionismus gratis aufs Fleisch gekloppt - und er findet es wundervoll.
Dagur und die starken Männer
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"Jetzt haben wir so viele gute Spiele gemacht, da ist es scheißegal wie der Körper sich fühlt oder wie viele blaue Flecken da sind", sagte der deutsche Kreisläufer SPORT1 nach dem 28:23 gegen Argentinien und dem sicheren Einzug ins Achtelfinale (DATENCENTER: Der WM-Spielplan).
Stark wie seit 2009 nicht
Mit einem Sieg gegen Saudi-Arabien (ab 16.45 Uhr im LIVETICKER bei SPORT1) könnte Deutschland die Vorrunde als Gruppenerster mit neun Punkten abschließen, so stark wie seit 2009 nicht mehr. Die Spieler spazieren bei diesem Turnier in Katar pfeifend über die Schmerzgrenze. Der Mann, der sie in die K.o.-Phase geführt hat und zu ungeahnten Leistungen, ist Bundestrainer Dagur Sigurdsson.
Das Szenario ist bekannt seit der Erfindung der Ballsportarten: Ein Trainer übernimmt eine umherverlierende Mannschaft, ändert ein paar Dinge, hat Erfolg und schon sind alle glücklich und loben einander. Ähnlich ist es bei Sigurdsson und dem DHB-Team. Und in diesem Fall spricht einiges dafür, dass beim Isländer ein saftiges Fundament unter all dem süßen Schaum dieser Tage in Doha steckt.
Alle Szenarien durchdacht
Sigurdsson bringt auf jeden Fall die wichtigste Eigenschaft eines Handballtrainers mit: Er erkennt alle möglichen Szenarien eines Spiels im Voraus und weiß, seine Mannschaft perfekt einzustellen.
In jedem der bisher vier Spiele kassierte Deutschland phasenweise viel zu leichte Gegentore. Sigurdsson braucht seine Spieler dann im Normalfall nur an die Grundlagen zu erinnern. "Der Trainer hat in der Halbzeit gesagt, dass wir in der Abwehr enger zusammenstehen bleiben. Wir sollten auch mehr Tempo nach vorne gehen", sagte etwa Patrick Groetzki nach dem Argentinien-Spiel bei "Sky".
Da führte der Gegner mit einem Tor, Deutschland hatte geschlampt und war hektisch geworden. Danach fluppte es deutlich besser. Wichtig ist: Sigurdsson fordert Mut. Auf keinen Fall darf die Mannschaft wegen ein paar Gegentoren verkrampfen oder zu passiv werden.
Die Spieler glauben Sigurdsson, was vor allem bei denen entscheidend ist, die zuvor schon zwei andere Bundestrainer und zahlreiche Ansprachen erlebt haben. Diven oder Einzelgänger sind nicht das Problem unter Deutschlands aktueller Handballelite. Im Gegenteil: Manch einer weiß vermutlich noch gar nicht, wie gut er ist.
Kretzschmar lobt Drux
Über Paul Drux urteilt etwa SPORT1-Experte Stefan Kretzschmar in seiner aktuellen Kolumne: "Der letzte 19-Jährige, bei dem ich eine solche Konstanz gesehen habe, war Nikola Karabatic." Sigurdsson weckt diese Stärke und führt die Spieler so auf ein ungeahntes Niveau.
Bei den Feldspielern hat Sigurdsson mit Uwe Gensheimer, Paul Drux, Patrick Wiencek, Martin Strobel, Steffen Weinhold und Patrick Groetzki klare Präferenzen, lediglich Drux bekommt auch in der Offensive öfter eine Pause. Und dennoch: Auch die Bankspieler fühlen sich wichtig und gebraucht.
"Sie sind angeblich alle fit", sagte Sigurdsson über seinen Kader. "Auf jeden Fall hat sich keiner gemeldet." Nicht dass er jemanden in eine Verletzung treiben würde - aber er ist darauf angewiesen, dass seine Spieler Schmerzen bis zu einem gewissen Punkt ignorieren.
Dafür schenkt er ihnen all sein Vertrauen, hat er sich einmal für sie entschieden. Jeder kennt seine Rolle genau. Zudem nutzt Sigurdsson jede Gelegenheit, die Belastung auszugleichen: Am Freitag bekam die Mannschaft trainingsfrei, bis auf ein paar Spieler, die sich morgens im Kraftraum schindeten.
Verdiente Pause am Freitag
Stattdessen heizt die Truppe mit Offroad-Fahrzeugen über die Dünen Katars und isst danach in Wüstenzelten gemeinsam zu Abend. Ablenkung und Pflege beim WM-Monsterprogramm mit einem Spiel alle 48 Stunden.
Sigurdsson hat die Mannschaft in Rekordzeit zu seiner eigenen gemacht. Spieler wie Paul Drux, Jens Schöngarth oder Erik Schmidt wären bei einem anderen Bundestrainer wohl nicht so schnell nach oben gekommen.
"Man kann die Mannschaft nicht mit der Mannschaft vom Juni vergleichen", sagte Carsten Lichtlein. "Die Jungs hier spielen befreit auf."
Auch viel Erfahrung in der Mannschaft
Auf der anderen Seite profitiert Sigurdsson vom gerade richtigen Reifegrad bei Uwe Gensheimer, Patrick Groetzki oder Martin Strobel. "Mehr Routine, mehr Erfahrung, gerade in so engen Spielen" habe deshalb den Ausschlag gegen Argentinien gegeben, sagte er bei SPORT1.
Trotzdem: Bei so vielen Jungen vor allem in der zweiten Reihe kann es in der K.o.-Runde schnell eng werden und genauso schnell vorbei sein. Nach den turbulenten und wenig erfolgreichen letzten Jahren ist die langfristige Strategie entscheidend, viel mehr noch als der kaum erwartbare Erfolg in Katar.
Beim DHB weiß man: Sigurdsson kann den deutschen Handball prägen. Er wird selbst bei einem Aus im Achtelfinale jede Unterstützung bekommen. Schöner wäre aber natürlich eine WM zum Start seiner Amtszeit, die wegen der Siege in Erinnerung bleibt und nicht wegen diverser Blutgerinnsel.