"Die gestiegenen Erwartungen, das Interesse an meiner Person - das war einfach zu viel für mich." Michael Kraus weiß, wie es ist, überfordert zu sein.
Letzte Chance eines Versprechens
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Dabei wurde er 2007 Weltmeister im eigenen Land. Gefeierter Held des Wintermärchens, Sunnyboy, Frauenschwarm und Shootingstar auf der Mittelposition.
Doch es ging bergab. Geschichten über ausschweifende Partys und teils vernichtende Kritik einstiger Idole begleiteten fortan seine Karriere.
Kraus gilt deshalb bis heute als das nicht eingelöste Versprechen des deutschen Handballs - der ihn jetzt mehr braucht denn je.
Große Chance gegen Tschechien
Dem DHB-Team mangelt es vor der WM in Katar an Durchschlagskraft und Toren aus dem Rückraum. Kraus ist mittlerweile 31. Doch nie war er seit 2007 wieder besser, sagen Experten.
Bundestrainer Dagur Sigurdsson hat das erkannt. Er bietet ihm in den abschließenden Tests gegen Tschechien am Freitag in Stuttgart (20 Uhr LIVE im TV auf SPORT1) und am Samstag in Mannheim die Chance, den hohen Erwartungen endlich gerecht zu werden - und im letzten Moment mit zur WM zu fliegen.
"Das ist mein großes Ziel. Ich bin hier nicht nur angereist, um die Jungs zu sehen und ein paar Trainingseinheiten zu machen" kündigte Kraus an.
Alles begann unbeschwert
Alles begann ganz unbeschwert. Kraus war noch nicht mal Profi, da machte er halbnackt erstmals auf sich aufmerksam. Die Jugendzeitschrift "Bravo" suchte 2000 den "Boy des Jahres" - die Leser wählten Kraus aufs Cover. Später posierte er als Model für Unterwäsche.
Doch berühmt machte ihn erst die Weltmeisterschaft im eigenen Land. Dabei war er eigentlich für die zweite Reihe vorgesehen.
Hype wie im Fußball
Spielmacher Markus Baur aber verletzte sich während des Turniers. Der damalige Bundestrainer Heiner Brand vertraute Kraus, der über sich hinaus wuchs. Er führte das DHB-Team zum Titel. Dabei war er erst 23.
Der Hype um seine Person glich Dimensionen, wie man sie sonst nur aus dem Fußball kennt.
Von Göppingen aus zog es ihn in der DKB HBL nach Lemgo. Seine Lehre zum Bankkaufmann ließ er sausen - vier Monate vor dem Abschluss. Es war der Anfang vom Ende einer Erfolgsgeschichte
Beim TBV leistete er sich reihenweise persönliche Eskapaden. Er kam zu spät zum Training, verpasste Termine, vergaß taktische Absprachen - den Vorwurf, es mangele ihm an Professionalität, konnte er später auch nicht beim großen HSV Hamburg entkräften.
Schwerer Autounfall
Immer wieder wurde er bis tief in die Nacht auf Partys gesichtet. Tiefpunkt war ein schwerer Autounfall mit einem weißen Porsche 911GTS. Das Innenband im Knie riss, mehrere Rippen waren geprellt. Mentor Brand hatte genug gesehen, warf ihn aus der Nationalmannschaft.
"Er könnte der beste deutsche Handballer sein", sagte der Weltmeister-Trainer verbittert. "Er hat sein Talent aber nach der WM 2007 regelrecht verschludert."
Kraus war am Boden. "Ich habe Rückenprobleme bekommen, konnte nachts kaum noch schlafen. Es ist brutal, was die Psyche ausmachen kann", schilderte er seine damalige Situation später in einem Interview der "FAZ".
"Ich habe Fehler gemacht"
Nach außen hin gab er weiter den fröhlichen "Mimi". Doch er wollte wieder ernst genommen werden. So kehrte er vor der Saison 2013/'14 zu Frisch Auf Göppingen zurück und gab sich geläutert.
"Ich habe Fehler gemacht, und ich habe daraus gelernt", sagte er im Interview mit SPORT1.
Schritt für Schritt steigerte er sich. Bis ihn der damalige Bundestrainer Martin Heubgerger schließlich für die WM-Playoffs gegen Polen berief. Er konnte die Pleite zwar auch nicht verhindern, war in einer mäßigen Mannschaft aber noch einer der besten.
Zwist mit NADA
Doch seine Karriere drohte wieder zu versanden. Nur vier Monate nach seiner Rückkehr ins DHB-Team leitete die Anti-Doping-Kommission des Verbands gegen ihn ein internes Disziplinarverfahren ein.
Er soll drei Meldepflicht- und Kontrollversäumnisse binnen 18 Monaten begangen zu haben. Schließlich wurde er von dem Vorwurf freigesprochen.
Dennoch war er wochenlang suspendiert, und er wurde nicht mehr für die Nationalmannschaft berücksichtigt.
Während mit der Nationalen-Anti-Dopingagentur NADA ein wahrer Zwist entbrannte, kämpfte er sich in der DKB HBL zurück. Kraus überragte kurz vor der WM-Pause gegen den SC Magdeburg, Sigurdsson nominierte ihn für sein vorläufiges Aufgebot. Er schien am Ziel.
Wieder raus aus dem Kader
Doch die Folgen einer Oberschenkelverletzung plagten Kraus. Sigurdsson strich ihn wieder aus dem Kader. "Wir haben mit Mimi gesprochen. Er war nicht fit", schilderte der Isländer. Kraus aber erklärte schon damals bei SPORT1, bereitzustehen.
Jetzt bekommt er die nächste Chance. Nahe seiner Heimat soll er letzte Zweifel beseitigen.
"Es spricht sehr, sehr viel für ihn", sagte Sigurdsson: "Er passt sehr gut in diese Truppe. Jetzt müssen wir schauen, ob er fit ist."
Der entscheidende Faktor
Sollte er fit werden, ist er nicht weniger als der Hoffnungsträger. Der Positionsangriff im Rückraum schwächelt. Genau hier liegen seine Stärken.
Er geht wurfgewaltig ins Eins-gegen-Eins, bricht zum Kreis durch - und spielt Pässe, die jede noch so dicht gestaffelte Abwehrreihe aushebeln.
"Wir werden Varianten brauchen, weil wir von Spielzügen leben", meinte Sigurdsson. Kraus wäre sein entscheidender Faktor im Angriff.
"Mit dieser Mannschaft sollte das Viertelfinale auf jeden Fall das Ziel sein", sagte Kraus bei "Sky": "Wenn wir gut ins Turnier starten, ist vieles möglich."
Er weiß: Er hat noch ein Versprechen einzulösen.