Die Spiele der Marvel vs. Capcom-Reihe waren seit jeher ein essenzieller Eckpfeiler der westlichen Fighting Game-Community. Besonders das im Jahre 2000 erschienene Marvel vs Capcom 2: New Age of Heroes hinterließ eine bleibende Spur in der Pop-Kultur des Genres. Der Titel brachte zahlreiche Größen hervor, die bis heute für Furore sorgen. Zudem lieferte das Spiel den Schauplatz für eine der großen Rivalitäten zwischen der Ost- und Westküste der Vereinigten Staaten. Gerade New York zählte als potentes Ballungsgebiet für MvC2. Die legendäre Arcade Chinatown Fair war ein Hotspot, in der viele ikonische Spieler ihre ersten Schritte taten.
Never give up! Die Justin-Wong-Story
Zwei dieser Spieler waren Justin „JWong“ Wong und Michael „Yipes“ Mendoza. Letzterer zählt bis heute zu der Speerspitze der Marvel vs. Capcom-Community. Mit seinem lebhaften, energetischen Commentary konnte sich Yipes schnell einen Namen in der Szene machen. Phrasen wie „It‘s Mahvel, baby“ und „You‘re so Pringles! Were your curley mustache at?“ sind mittlerweile in der imaginären Hall of Fame der FGC verewigt.
Und auch wenn Yipes als einer der besten Marvel vs. Capcom 2-Spieler seiner Zeit gewesen ist, so verblasst seine Leistung im Vergleich zu der von Justin Wong. Dieser galt als echtes Wunderkind. Bis zum Jahr 2007 konnte Justin fünfmal den Titel des MvC2-Champions innerhalb der renommierten Turnierserie Evolution Championship Series (ehemals Battle by the Bay) erringen. Erst in diesem Jahr sollte es Yipes schaffen, sich im Grand Final gegen Justin durchzusetzen. Und dennoch sollte es sein Kontrahent sein, der in diesem Turnier einen Moment erschuf, der auf ewig sein Vermächtnis sein sollte.
Denn die beiden trafen bereits im früheren Verlauf der Top 8 aufeinander. Yipes konnte mit seinem Team aus Magneto, Storm und Psylock die erste Runde der Begegnung gewinnen und dadurch in Führung gehen. Auch Runde 2 sah nicht gut für Justin aus. Sowohl seine Storm und sein Sentinel wurden schnell Opfer des exzellenten Gameplays von Yipes Magneto. Da jeder Charakter des gegnerischen Teams besiegt werden muss, um einen Sieg zu erringen, stand nun nur noch Justins Cyclops zwischen Yipes und dem siegreichen Abschluss des Matches.
Yipes Storm findet einen frühen Treffer. Die resultierende Combo kostet Justin ein Drittel des Lebens seines Charakters. Anstatt die Combo mit einem Super Move zu beenden, versucht Yipes seine Offensive zu resetten. Er fliegt mit Storm unter Cyclops hindurch und versucht damit ein Link-Rechts-Mixup zu erzwingen. Justin blockt. Doch nicht nur das. Er kontert mit einem Uppercut von Cyclops, der in den Super Move „Mega Optic Blast“ mündet. Yipes lässt allerdings nicht locker. Er ruft Psylockes Unterstützungsangriff und prescht erneut auf Justin zu. Uppercut. Mega Optic Blast. Storm bleibt mit 10% ihres maximalen Lebens zurück.
Der Plan von Yipes ist es nun Storm zu retten und Magneto einzuwechseln. Um dies zu erreichen nutzt er eine Technik, die sich Delayed Hyper Combo nennt. Während ein Charakter einen Super Move ausführt, kann der Super Move eines nachfolgenden Team-Mitgliedes eingegeben werden, um diesen zu aktivieren und den Kämpfer mit dem Aktiven auszutauschen. Mit genügend Ressourcen lässt sich dies dreimal durchführen. Unter dem Einsatz von drei (von maximal fünf) Super-Balken bringt Yipes Storm auf die Bank und wechselt Magneto ein.
Magneto verschwendet keine Zeit. Er fliegt offensiv auf den Cyclops von Justin zu. Uppercut. Mega Optic Blast. Yipes wird ungeduldig. Erneut ruft er den Assistenz-Angriff von Psylocke und versucht Justin mit einem tiefen Angriff seines Magneto zu treffen. Justin findet eine Lücke in der Offensive seines Gegners und trifft sowohl Magneto als auch Psylocke mit einem Punch, welchen er in eine Super Move combot, um Magneto zu erledigen.
Das Publikum beginnt lauter zu werden und auch die Kommentatoren spüren die Energie der Menge: „Es ist niemals vorbei, bevor es vorbei ist. Niemals vorbei, bevor es vorbei ist! Das ist Mahvel, baby!“
Yipes stark angeschlagene Storm betritt die Stage. Beide Spieler fischen mit Angriffen in der Luft nach einem Treffer. Letztendlich ist es Justins Cyclops, der erneut einen Uppercut landet und Storm besiegt. Justin hatte es geschafft aus einer 3 gegen 1-Situation wieder ein faires Duell zu machen. „Wir haben jetzt doch noch ein echtes Match! Wir bekommen ein echtes Match! Let‘s go! Let‘s go!“, das Commentary eskaliert.
Beide Spieler sitzen auf ihrem letzten Charakter. Yipes auf Psylocke, Justin auf Cyclops. Jeweils mit fast vollem Lebenspunktebalken. Yipes schafft es Justin in die Ecke zu drängen. Dieser versucht erneut mit einem Uppercut aus der Lage zu entkommen. Dieses Mal verfehlt der Angriff und er muss seinen letzten Super-Balken ausgeben, um Cyclops unter Einsatz des Mega Optic Blasts abzusichern, und Psylocke zum Blocken zu zwingen. Eine darauffolgende Combo führt dazu, das Cyclops auf nur noch 10% seiner Lebenspunkte zurück bleibt. Da die Ressourcen seines Gegners erschöpft sind, startet Yipes eine letzte Offensive. Er setzt Justin mit Block-Strings und Specials Moves stark unter Druck.
Die Menge tobt. Die Anspannung ist unerträglich. Sowohl Yipes als auch Justin haben den Sieg in greifbarer Nähe. Justin steht mit dem Rücken zur Wand. Stirbt Cyclops, verliert er das Match.
Dann passiert es.
Cyclops springt in die Luft und lässt einen Angriff von Psylocke unter ihm ins Leere gehen. Er trifft sie im Fallen mit einem Angriff. „Uh Oh!“, die Kommentatoren wissen was passieren wird. Eine Kurze Combo von Cyclops und ein finaler Super Move. Der Bildschirm geht in farbenfrohen Effekten auf während Psylock zu Boden geht. Mit versagender Stimme hört man aus dem Commentary: „Justin Wong! Oh mein Gott! Oh! Mein! Gott!“
Was macht diesen Moment so besonders?
Im Vergleich zu klassischen Fighting Games, wie Street Fighter, wählen Spieler in Marvel vs. Capcom 2 nicht nur einen Charakter, den sie spielen möchten, sondern ein Team aus drei. Davon ist einer immer auf dem Bildschirm (man nennt dies den „Point Character“). Die anderen beiden sitzen auf der Bank, können eingewechselt oder für kurze Unterstützungsangriffe gerufen werden. Man gewinnt, wenn das gesamte Team des Gegners besiegt ist.
Da der Balken, den man nutzt, um Super Moves auszuführen eine entscheidende Ressource des Titels ist, werden Teams oft in der folgenden Komposition gebaut: Battery, User und Assist. Die Battery ist ein Charaktere, der entweder leicht den Super-Balken füllen kann und/oder selbst keine Super Moves nutzen muss. Der User ist der Fighter, der den Balken dann nach Herzenslust ausgeben darf. Der Assist hingegen wird ausschließlich wegen seines potenten Unterstützungsangriffs genutzt. Meist ist es nicht geplant, dass dieser Charaktere aktiv am Kampf teilnimmt.
Oft ist es auch so, dass Spieler aufgeben, sollte lediglich der Assist des eigenen Teams noch am Leben sein. Zum einen, weil es extrem schwer ist ein Match drei gegen eins zu gewinnen, zum anderen darum, weil es den besten Assists im Spiel meist an Spielstärke fehlt.
Denn obwohl Marvel vs. Capcom 2 56 spielbare Charaktere bietet, sind davon lediglich eine sehr begrenzte Anzahl wirklich Turniertauglich. Man sieht in den meisten Fällen Kämpfer wie Magneto, Storm, Sentinel, Iron Man, Strider und Cabel. Psylocke, Captain Commando und Cyclops sind hingegen beliebte Assists. Besonders die letzten beiden sind aber in ihren tatsächlichen Optionen als Point-Character sehr beschränkt.
Das bedeutet, dass Justin in diesem Match gegen Yipes gleich zwei Faktoren überwand, die ganz klar gegen seinen Sieg gesprochen hätten: Er schaffte ein Comeback gegen ein volles Team aus Top-Tier-Charakteren (Magneto, Storm, Psylocke). Und das auch noch mit einem der schlechteren Charaktere des Spiels: Cyclops.