Natürlich dachten alle, es sei nur ein Betriebsunfall.
2. Bundesliga: Hamburger SV empfängt Angstgegner Holstein Kiel - ein Duell mit Brisanz
Wie Tim Walter dem HSV den Aufstieg versaute
Das Unmögliche, aus der Bundesliga abzusteigen, war zwar Tatsache geworden. Aber noch unmöglicher erschien es Fans und Verantwortlichen des HSV, dass sie länger als ein Jahr in der 2. Liga bleiben würden. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur 2. Bundesliga)
In der Sommerpause hatte sich, wie das öfters bei Traditionsvereinen zu beobachten war, eine Welle der Solidarität über den nun ehemaligen Dino der Bundesliga ergossen. 3000 neue Mitgliedschaften wurden abgeschlossen, der Dauerkartenverkauf boomte.
Die Aussicht auf wieder mehr Siege, wenn auch in einer anderen Liga, löste eine „Art Euphorie“ aus, wie Trainer Christian Titz feststellte. Die Hamburger nahmen die 2. Liga, an wie Nachbarn einen Hund annehmen, den dessen Besitzer nach dem Urlaub wieder abholen. Es geht ja bald vorüber. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der 2. Bundesliga)
Hamburger SV als Favorit in 2. Bundesliga
Entsprechend zuversichtlich gingen sie an der Elbe im Sommer 2018 in die erste Zweitligasaison der Klubgeschichte. Kein Spiel in der Vereinsgeschichte war schneller ausverkauft als die Auftaktpartie gegen Holstein Kiel, gegen das der HSV auch heute Abend (Ab 20:30 Uhr LIVE auf SPORT1 im TV & Stream) antreten muss.
Titz sah sich am Vortag immerhin zu einigen warnenden Worten veranlasst: „Das wird morgen ein erster Härtetest. Ich freue mich darauf. Aber wir sind alle gut beraten zu erkennen, dass das ein sehr schwieriges Spiel werden wird.“ Titz, der selbst keinerlei Erfahrung mit der 2. Liga hatte, begründete das damit, dass für den HSV „jedes Spiel eine Art Pokalcharakter hat. Denn jeder will den Verein schlagen, der aus der Bundesliga kommt. Das ist keine einfache Liga.“
Mit Holstein Kiel kam eine Mannschaft, die den Aufstieg in die Bundesliga erst in der Relegation verpasst hatte. Trainer Markus Anfang war daraufhin nach Köln, dem zweiten namhaften Absteiger der Saison 2017/18, gegangen. Der Neue auf der Kieler Kommandobrücke hieß Tim Walter. Jener Tim Walter, der den HSV im vierten Jahr nun endlich in die Bundesliga zurückführen soll. (DATEN: Die Tabelle der 2. Bundesliga)
Dass es nicht auf Anhieb klappte, das lag auch an ihm. Denn die Kieler versauten dem HSV beim ersten Punktspieltreffen nach 55 Jahren (in der Oberliga Nord) den Neustart in einer anderen Liga und sorgten sofort wieder für Unruhe.
HSV ohne Chance bei Premiere in 2. Bundesliga
Vor ausverkauftem Haus (57.000) unterlag der HSV nach torloser erster Hälfte dem Außenseiter am 3. August mit 0:3 (!). Vor der Pause war der HSV noch überlegen, vergab aber seine Chancen.
Angetrieben vom überragenden Koreaner Jae-Song Lee, den Zuschauern noch bestens von der WM in Russland bekannt, als er zum Aus des Weltmeisters Deutschland beitrug, entschieden die Kieler das Spiel zu ihren Gunsten.
Die Tore schossen Jonas Meffert (56.), David Kinsombi (86.) und Matthias Honsak (93.). Für Meffert war es gewiss eine besondere Genugtuung, er spielte 2015 noch für den Karlsruher SC, der unter dubiosen Umständen in der Relegation am HSV scheiterte. Meffert hatte den Freistoß mit einem angeblichen Handspiel verursacht, den Marcelo Díaz in letzter Sekunde zum Ausgleich verwandelte. Sonst wäre der KSC aufgestiegen.
Für die Bild-Zeitung war es „die Relegations-Rache am HSV“. Sein Kommentar: „3:0 beim HSV – besser geht‘s nicht.“ Kinsombi, Schütze des zweiten Tores, spielt seit 2019 an der Elbe, Tim Walter folgte ihm zwei Jahre später nach.
Er sparte sich jegliches Triumphgeheul, aber ein Kompliment für den HSV war sein Fazit auch nicht: „Die Leistung der Jungs in der 2. Halbzeit bei diesen Temperaturen war grandios. Aber die 2. Liga beginnt jetzt erst so richtig am kommenden Sonntag gegen Heidenheim.“ Ein Gastspiel beim HSV als Vorgeplänkel?
Neue Liga, altes Leid für den HSV
Die Hamburger Stimmen waren von Einsicht und Schuldbewusstsein geprägt, schließlich waren sie auch in der neuen Liga gleich mal Letzter. „Das fühlt sich Scheiße an. Wir alle, auch ich, haben heute total versagt“, bekannte Lewis Holtby, der heute das Holstein-Trikot trägt.
Sportchef Ralf Becker: „Die Niederlage war verdient. Das tut uns brutal weh, nachdem wir zuvor so ein gutes Gefühl gehabt hatten.“ Trainer Titz beteuerte am nächsten Tag: „Wir waren nicht überheblich. Aber gestern war ein Tag, der dann auch mal gegen dich läuft.“
Die Fans ließen ihrem Frust im Netz freien Lauf, zu körperlichen Aktivitäten war es im Sommer 2018 einfach zu heiß. Darauf spielte auch ein User an: „Der HSV kann eben nur gegen den Abstieg spielen. Aber im Keller ist es wenigstens kühl.“
Den Keller verließen sie alsbald, aber den Fahrstuhl nach oben verpassten sie trotzdem. Auch weil sie am Tag vor Heiligabend das Rückspiel ebenfalls verloren, nun saß Walter schon Hannes Wolf gegenüber. Der manövrierte den HSV am Saisonende auf Platz vier.
Wenn sie nur zwei der sechs gegen Kiel verspielten Punkte geholt hätten, wäre der HSV wieder erstklassig geworden und wäre es vielleicht heute noch. So aber kam es zu weiteren regelmäßigen Treffen mit den Kielern, die sich zum Angstgegner entwickelten für die Rauten-Träger.
In den vergangenen beiden Jahren gab es lauter Unentschieden, so dass der HSV auch nach sechs Duellen auf einen Sieg im kleinen, weil weniger legendären, Nordderby wartet. Verloren aber haben sie nur, als Tim Walter auf der Holstein-Bank saß. Vielleicht kann der Mann, der den Holstein-Komplex des HSV hervorrief, ihn heute beenden. Das wäre dann wieder eine Geschichte, die nicht nur, aber auch der Fußball schreibt.