Glaubensfragen gibt es sowohl im Fußball als auch im Leben schon immer. Entweder oder heißt es dann. Keine Zwischentöne, A oder B, schwarz oder weiß. Bayern oder 1860. Dortmund oder Schalke. Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo.
Köln-Legende Overath wird 75
Oder aber: Wolfgang Overath oder Günter Netzer. Köln oder Gladbach.
Beide Koryphäen und Gesichter ihrer Klubs. Klassische Zehner. Führungspersönlichkeiten. Alphatiere. Die beiden einzigen echten Spielmacher der 70er Jahre. Dabei aber ganz anders in ihrer Art zu spielen.
Erbitterte Rivalen auf dem Platz, privat aber Freunde. Netzer kam aus der berühmten "Tiefe des Raumes", verstand sich als Feingeist. Er war einer, dem man sein Befinden sofort ansah. Der die Schultern hängen ließ, wenn es nicht lief.
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Kämpfer und Anführer
Overath hingegen war wie Netzer technisch stark, aber auch Kämpfer, Anführer. Einer, der nie aufgab, voranging, den sein Ehrgeiz immer wieder antrieb.
Eine Einstellung, eine Glaubensfrage, die sein Leben prägt, seine Passion, seinen Beruf, auch mit seinen 75 Jahren noch. Sein Alter sieht man ihm nicht an, er joggt regelmäßig und spielt zweimal in der Woche in der Halle Fußball. Das Kampfgewicht hat er fast gehalten.
"Ich fühle mich fit und überhaupt nicht alt", sagt Overath dann auch vor seinem Ehrentag, den er im Gegensatz zu früher nicht mehr groß feiern wird. Waren es zum 50. rund 500 Leute im Phantasialand, wird der 75. nachdenklich und im Kreis der Familie gefeiert.
"Es ist schwer, die Zahl und mein Gefühl unter einen Hut zu bringen." Die 75 mache ihn "nachdenklich", wenn er aus diesem Anlass zurückblicke, sei er aber dankbar: "Ich hatte sehr viel Glück in meinem Leben. Der da oben hat es bisher gut gemeint mit mir."
"Der da oben" hat immer eine große Rolle gespielt
"Der da oben" hat im Leben Overaths immer eine große Rolle gespielt, auf seine persönliche Glaubensfrage gab es immer eine klare Antwort, ein unmissverständliches „Ja“ zu Gott. Was wohl auch in seiner Kindheit begründet liegt. Geboren 1943, im 2. Weltkrieg, als ein Land in Trümmern lag.
Overath war jüngstes von insgesamt acht Kindern. Sein 14 Jahre alter Bruder wurde kurz vor Kriegsende versehentlich von den Amerikanern erschossen – vor den Augen der Eltern. Sein 19 Jahre alter Bruder war im Alter von 19 Jahren an der Ostfront gefallen. "Der soll als Fußballer noch besser gewesen sein als ich", sagt Overath.
Für die Familie war das alles eine große Tragödie. "Ich denke, dass der da oben im Himmel ihn bei sich aufgenommen hat", so Overath, der tief im christlichen Glauben verwurzelt ist. Betet täglich, liest regelmäßig in der Bibel. Gründete vor über 20 Jahren einen Fonds für Hilfsbedürftige und lädt jedes Jahr 150 Obdachlose zu einer Weihnachtsfeier ein.
Seine unter Fußball-Legenden nicht unbedingt weit verbreitete Lebensmaxime, sein Glück mit anderen zu teilen, führte zudem zur Adoption eines brasilianischen Kindes, was sein Familienglück mit seiner Frau Karin und den beiden leiblichen Söhnen perfekt macht.
"Das Spiel zeigt, wie der Mensch im Leben ist", sagte Overath einmal. Anders gesagt: Er war immer Kämpfer, immer Anführer, egal, was er tat. Ein schlechter Verlierer. Aber auch einer mit einem großen Herzen. Einer, der auf den größten Erfolg seiner Karriere fast freiwillig verzichtet hätte.
1974 wollte Overath schon absagen
Vor der WM 1974 spielte er schlecht, war nicht in Form, es fehlte das Selbstvertrauen, Medien und Öffentlichkeit wollten Netzer beim Heimturnier sehen. Der hatte zwei Jahre zuvor den EM-Titel geholt, mit der legendären "Wembley-Elf", Overath wollte absagen.
Doch Helmut Schön überredete Overath, der fortan keine Zeitungen mehr las, kein Fernsehen mehr schaute und sich nur noch auf das Turnier fokussierte.
"Im ersten Spiel habe ich alle an die Wand gespielt, als ob ich nie eine schlechte Phase gehabt hätte. Das ging von einer Sekunde auf die andere, plötzlich war ich wieder Stammspieler", sagte er einmal über die Momente, als er Netzer ausstach: "Er hatte keine Chance gegen mich." Da beide auf dem Platz Egoisten waren, konnte es sowieso nur einen geben.
Womit dann Overath beim Sommermärchen den Taktstock schwang, als Regisseur dieses besondere Kapitel des deutschen Fußballs entscheidend mitgestaltete. Auf dem Gipfel beendet er nach 81 Länderspielen und 17 Toren seine DFB-Karriere.
Bei drei Weltmeisterschaften gehörte er zu Deutschlands Hauptdarstellern. Wie 1974 bestritt er auch bei den Weltmeisterschaften 1966 (Zweiter) in England und 1970 (Dritter) in Mexiko alle Spiele für die DFB-Elf.
Große Liebe, großer Streit
Drei Jahre später ist dann ganz Schluss, nachdem er von 1962 an ausschließlich für den 1. FC Köln kickte, mit dem er einmal deutscher Meister (1964) und zweimal DFB-Pokalsieger (1968/1977) wurde.
Mit 542 Pflichtspielen ist er vor Kölns Vizepräsident Toni Schumacher der Rekordmann, bestritt in der Bundesliga 409 Begegnungen, erzielte 84 Tore. Wird Ikone des Klubs, Gesicht des Vereins.
Doch die große Lebensliebe zu seinem "effzeh" wird aber auf eine große Belastungsprobe gestellt, als er 2004 Präsident des Klubs wird.
Die Anfänge sind Euphorie, eine Aufbruchstimmung, die in den Jahren darauf aber umschlägt, nach heftiger Kritik an der strategischen Ausrichtung und der wirtschaftlichen Situation treten Overath und sein Vorstand auf der Jahreshauptversammlung 2011 unvermittelt zurück.
Sein Verhältnis zum neuen Führungspersonal der Kölner ist daraufhin belastet, der ewige Held meidet den Klub. Leidet wie ein Hund.
Erst 2017 gibt es die Aussöhnung, seitdem geht Overath auch wieder ins Stadion. Was bedeutet: Seitdem ist er endgültig wieder wunschlos glücklich. Er stellt dann auch zu seinem 75. klar: "Ich würde alles noch einmal so machen." Glaubensfragen hin oder her.