Blickte man Christin Hussong am Dienstagabend nach ihrem Speerwurf-Wettkampf bei der Leichtathletik-EM in Rom ins Gesicht, wäre man nicht auf die Idee gekommen, dass sie gerade knapp eine Medaille verpasst hatte.
„Warum wirft sie überhaupt noch?“
Die 30 Jahre alte Saarländerin, die ihre Bestweite von 61,92 Meter bereits im ersten Versuch geworfen hatte, strahlte beinahe so wie Siegerin Victoria Hudson. Die Österreicherin gewann mit 64,62 Meter das erste Gold für Österreich nach 53 Jahren für die Alpenrepublik.
Hussong lag bis zum 3. Versuch noch auf Rang zwei, wurde dann aber von Adriana Vilagos (Serbien; 64,42 m) und der Norwegerin Marie-Therese Obst (63,50 m) auf Rang vier verdrängt.
Bei SPORT1 erklärt Hussong, warum sie dennoch so eine gute Laune hatte.
„Es waren wirklich harte Jahre“
SPORT1: Frau Hussong, Sie scheinen trotz des 4. Platzes richtig gut gelaunt. Wie kommt‘s?
Christin Hussong: Vierter Platz klingt erstmal richtig blöd, vor allem wie der Wettkampf gelaufen ist. Aber es war eine deutliche Saisonbestleistung und ich habe mal wieder so richtig ein Ausrufezeichen gesetzt. Natürlich kann man sagen: ‚Wer wird gern Vierter?‘ Aber für mich fühlt es sich tatsächlich an wie eine Medaille an, weil die letzten zwei Jahre unglaublich hart waren. Das war jetzt mein erster internationaler Höhepunkt seit Tokio (Olympische Spiele 2021, d.R.). Von daher bin ich einfach sehr, sehr stolz, dass ich heute gezeigt habe, dass ich noch dazugehöre. Ich habe an mir gezweifelt, von außen wurde auch gesagt: ‚Warum wirft sie überhaupt noch, die gehört gar nicht mehr dazu!‘ Und es waren wirklich harte Jahre, aber umso schöner ist es jetzt hier zu stehen.
SPORT1: Wie haben Sie die Kurve bekommen?
Hussong: Ich habe einfach immer weiter trainiert. Mit meinem Umfeld und meinem Vater als Trainer haben wir immer weiter gearbeitet. Wir haben gesagt: Ich kann‘s ja. Athletisch bin ich topfit, die Zubringerleistungen stimmen. Irgendwann muss der Punkt einfach kommen, wo es einfach Klick macht und es ist umso schöner, dass es heute im Finale Klick gemacht hat.

SPORT1: Haben Sie im Training etwas umgestellt, einen Zusatzreiz gebracht?
Hussong: Nein, das jetzt nicht. Aber wir haben sehr viel analysiert. Ich habe mir durch meine Verletzung eine Technik angewöhnt, die nicht förderlich ist, um weit zu werfen. Dass man das alles wieder rausbekommt, war sehr viel Arbeit. Das hat sehr viele Stunden gekostet, sehr viele Nerven - für mich wie auch für meinen Vater. Aber es zeigt sich einfach, dass man immer weiter kämpfen muss und irgendwann kommt die Belohnung.
EM-Wurf? „Mir fiel so ein Stein vom Herzen“
SPORT1: Wie haben sie sich gefühlt, als Sie die 61,92 auf der Anzeigetafel gesehen haben?
Hussong: Ich war einfach stolz auf mich. Das war wirklich der pure Stolz, dass ich das, was ich wollte, endlich mal hinbekommen habe. Ich hab mir dann immer gesagt, dass die Mädels noch kommen können, das wusste ich auch. Ich war mir sicher, dass es nicht für eine Medaille reicht. Natürlich hätte ich es gern gehabt, ich habe auch alles dafür gegeben, dass es am Schluss funktioniert. Aber mir fiel so ein Stein vom Herzen und dann ist es schwer, die Spannung hochzuhalten. Ich weiß jetzt, dass ich es kann und ich denke, die nächsten Wettkämpfe kann ich dann auch wieder anders angehen.
SPORT1: Hat sich der erste Wurf anders angefühlt?
Hussong: Ja, das war technisch genau das, was ich machen wollte. Beim Einwerfen hatte das hat schon super geklappt. Genau das, was wir die letzten zwei Wochen erarbeitet haben, hat endlich funktioniert. Ich brauche jetzt einfach noch ein paar Würfe, um Sicherheit zu bekommen und die kann ich mir bis Paris geben.
SPORT1: Apropos Paris, noch sind Sie nicht ganz sicher dabei, oder?
Hussong: Die direkte Norm liegt bei 64 Metern, die habe ich noch nicht. Aber die Bestätigungsnorm liegt bei 61 Metern, die hab ich jetzt endlich abgehakt. Jetzt heißt es abwarten mit den Punkten im Ranking, damit habe ich mich zuletzt nicht so viel auseinandergesetzt. Aber für meine Leistung heute gibt ja wieder ganz gute Punkte.