Sebastian Vettel spürt die Anspannung. Sie ist überall zu fühlen, man kann sie förmlich greifen. Nervosität liegt in der Luft. Vorfreude. Dieses Ziehen in der Magengrube. Leichtes Unwohlsein, verbunden mit einem guten Schuss Euphorie.
Als Vettel der lachende Dritte war
Es ist eine Stimmung, wie es sie nur bei einem Saisonfinale gibt, wenn man weiß: Heute fällt die Entscheidung, es gibt kein Zurück. Jetzt wird abgerechnet.
Der eine kann jetzt doch noch alles verlieren, der andere vielleicht noch alles gewinnen. Momente, in denen Favoriten straucheln, in denen Außenseiter brillieren. Wo Geschichte geschrieben wird.
In dem Moment der höchsten Konzentration, bevor in Abu Dhabi das letzte Kapitel der Saison 2010 aufgeschlagen wird, in der Startaufstellung also, reicht Vettel ein einziges Wort: Monza.
Besondere Erinnerungen an Monza
Sein damaliger Red-Bull-Renningenieur Guillaume Rocquelin schrieb es ihm auf die Balaclava, die Rennfahrer-Sturmhaube. "Das hat dazu geführt, dass ich mich beruhigt und daran erinnert habe, warum ich eigentlich da war", sagte Vettel im F1-Racing-Magazin.
Warum "Monza"? Rocquelin hatte vor dem Showdown wissen wollen, was Rennfahren für ihn bedeutet. "Ich habe ihm gesagt: 'Monza'. Das war sehr kraftvoll und hat es auf die Essenz heruntergebrochen, was ich da eigentlich mache", erklärte der Deutsche.
Auf dem Traditionskurs hatte er 2008 im eigentlich unterlegenen Toro Rosso sein erstes Formel-1-Rennen gewonnen. Jetzt - zwei Jahre später - steht er vor seinem ersten Titel. Er kann als jüngster Fahrer der Geschichte Weltmeister werden.
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Alonso, Webber oder Vettel?
Eigentlich stehen andere Fahrer vor ihm - Vettel kann an diesem Tag aber trotzdem alles gewinnen, obwohl er nur der Dritte im Bunde ist.
Fernando Alonso liegt mit 246 Punkten vor dem Finale in Abu Dhabi an der Spitze der Gesamtwertung. Red-Bull-Pilot Mark Webber, Vettels Teamkollege, liegt mit 238 Zählern dahinter. Vettel (231) ist ebenso Außenseiter wie McLaren-Star Lewis Hamilton (222).
Heißt: Für Red Bull Racing steht viel auf dem Spiel. Das äußert sich am Renntag ganz besonders. "An diesem Tag hatten wir viele lange Strategiemeetings und haben mehrere Möglichkeiten und Szenarien durchgespielt. Alle waren total nervös, da zum ersten Mal beide Fahrer im Team um den WM-Titel gekämpft haben", erinnert sich Vettel an die angespannte Atmosphäre zurück.
Der Deutsche hat Rückenwind durch zwei Siege aus den letzten drei Rennen, außerdem holt er die Pole Position. Und Red Bull stellt klar, dass es keine Teamorder geben wird.
Alonso geht als Dritter und Webber als Fünfter ins Rennen. Alles im grünen Bereich für Alonso, dem auch bei einem Vettel-Sieg Platz fünf für den Titel reicht.
Schumacher-Crash wirbelt alles durcheinander
Doch dann kommt "Monza". Und das Rennen. Und Michael Schumacher. Der Rekordweltmeister crasht gleich in Runde eins mit Vitantonio Liuzzi und löst eine Safety Car-Phase aus. Ferrari trifft dabei die folgenschwere Entscheidung, Alonso mit den superweichen Reifen auf der Strecke zu lassen.
Einige andere, darunter Nico Rosberg und Witali Petrow, ziehen die harten Reifen auf, die in Abu Dhabi locker eine Renndistanz durchhalten. Das bedeutet: Die Spitzengruppe muss genügend Vorsprung herausfahren, um nach den eigenen Stopps nicht in die Gruppe der Autos mit den harten Mischungen zu geraten.
Vettel führt nach der Serie der Stopps vor Hamilton, Jenson Button, Rosberg, Robert Kubica und Petrow. Alonso und Webber folgen auf den Plätzen sieben und acht.
Legendärer Funkspruch an Alonso
Es kommt in der Folge zum legendären Funkspruch des verzweifelten Alonso-Renningenieurs Andrea Stella: "Fernando, schöpfe dein ganzes Talent aus. Wir wissen, wie groß es ist." Ferrari-Teamchef Stefano Domenicali betont das, was längst alle wissen: "Es ist unerlässlich, zu überholen." Zwei Plätze muss der Spanier gutmachen, Webber sogar sechs.
Doch Petrow ist an diesem Tag in seinem Renault unbezwingbar. Die Reifen lassen nicht nach, der Russe macht sich zudem immer wieder breit. Alonso und Ferrari verzweifeln, vergeigen den Titel mit ihrer falschen Strategie auf der Strecke. Ein früher Wechsel im Rahmen der Safety-Car-Phase hätte den Spanier wohl am Ende auf Platz vier gespült – und zum Titel.
Startschuss der Red-Bull-Dominanz
Stattdessen ist Vettel der lachende Dritte und heult bereits nach der Zieldurchfahrt hemmungslos in den Funk. Der Druck fällt ab, Erleichterung macht sich breit, pures Glück. Tränen fließen, sein Schluchzen wird in die Welt hinausgeschickt.
Außerdem ist Abu Dhabi 2010 der Startschuss für drei weitere von Red Bull und Vettel dominierten Jahre in der Formel 1, an deren Ende vier WM-Titel stehen.
Vettel wartet mit Ferrari auf Titel Nr. 5
Seitdem wartet der Deutsche auf Titel Nummer fünf. Auch ein Wechsel zu Ferrari 2015 half nicht. Zuletzt musste Vettel in Austin einmal mehr den aktuellen Dominatoren der Hybrid-Ära gratulieren: Mercedes und Hamilton.
Es gibt Wahrheiten, die sich schnell abnutzen. Sprüche, die man nicht mehr hören kann, wenn der Erfolg sich nicht einstellen will. "Glaube an deinen Traum" ist so ein Mantra, was sich wunderbar herunterbeten lässt, was aber auch in einem Albtraum enden kann.
Doch Vettel lässt sich nicht beirren. 2020 wagt er einen neuen Anlauf. "Ich glaube noch immer an meinen Traum. Ich glaube noch immer, dass es funktioniert", sagte der 32-Jährige motorsport.com.
Er weiß: Manchmal reichen Kleinigkeiten, damit es funktioniert. Vielleicht kann Monza ja nochmal helfen.