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Wie ein hochrangiger Auschwitz-Täter durch Olympia aufflog

Olympia ließ NS-Täter auffliegen

Der deutsche Segler Rolf Mulka gewann 1960 eine Olympia-Medaille - und machte die Justiz damit auf seinen Vater aufmerksam: Robert Mulka, die rechte Hand des Lagerkommandanten von Auschwitz.
Robert Mulka (M.) beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt
Robert Mulka (M.) beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt
© IMAGO / United Archives International
Der deutsche Segler Rolf Mulka gewann 1960 eine Olympia-Medaille - und machte die Justiz damit auf seinen Vater aufmerksam: Robert Mulka, die rechte Hand des Lagerkommandanten von Auschwitz.

Ein Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Tornado in Texas auslösen - der Ausgang einer Olympia-Regatta im Gold von Neapel einen hochrangigen Nazi-Verbrecher in Deutschland hinter Gitter bringen.

Als Schmetterlingseffekt kennt die Wissenschaft das Phänomen, dass verhältnismäßig kleine Ereignisse in komplexen Systemen unvorhergesehene Folgen großen Ausmaßes haben können. Die weitreichenden Konsequenzen einer Segelkonkurrenz aus dem Jahr 1960 sind ein gutes Beispiel dafür.

Ein Olympia-Bronze mit Folgen

Im damaligen Sommer fanden die Segelwettbewerbe der Sommerspiele in Rom bei Neapel statt, auf dem Programm stand unter anderem die Disziplin Flying Dutchman - die 1992 ihren olympischen Status verlor.

Die Zwei-Mann-Regattajolle war die Spezialität des deutschen Duos Ingo von Bredow und Rolf Mulka, 1956 auf dem Starnberger See die ersten Weltmeister auf ihrem Paradeboot (und 1957 vor Rimini ein weiteres Mal).

Bei Olympia reichte es nicht ganz zur erhofften Karriere-Krönung: Die Norweger Björn Bergvall und Peder Lunde jr. holten Gold vor Hans Fogh und Ole Gunnar Petersen, von Bredow und Mulka blieb Bronze.

Von Bredow und Mulka bekamen für ihren Medaillenerfolg das Silberne Lorbeerblatt von Bundespräsident Heinrich Lübke - und beeinflussten damit auch unbewusst ein zentrales Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte: den Prozess gegen die Verantwortlichen der Mordmaschinerie im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Rolf Mulkas Vater war rechte Hand des Auschwitz-Kommandanten

In dem Lagerkomplex auf dem Gebiet des von Hitler-Deutschland besetzen Polen tötete das Nazi-Regime bekanntermaßen rund 1,1 Millionen Menschen, die meisten von ihnen Juden. Rund 900.000 wurden direkt nach ihrer Ankunft in Gaskammern vergiftet.

In den fünfziger Jahren begann in der BRD nach langem Ringen um rechtliche und politische Bewertungen die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Auschwitz - und die Bestrafung der nach dem Krieg im zivilen Leben untergetauchten Täter.

Ein Zeitungsbericht über den Olympia-Erfolg von Bredows und Mulkas brachte den Frankfurter Staatsanwalt Joachim Kügler auf die Spur eines zentralen Auschwitz-Funktionärs: Robert Mulka, Rolfs Vater - und Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß.

Mit-Organisator des Holocaust

Der in Hamburg geborene Robert Mulka, im zivilen Leben Exportkaufmann, Veteran im 1. Weltkrieg und überzeugter Anti-Demokrat, war im Dritten Reich zunächst Teil der Reichswehr, dann der Waffen-SS, wo er in den Rang des Hauptsturmführers aufstieg.

Nachdem er krankheitsbedingt von der Front abgezogen wurde, bekam er eine organisatorische Rolle im Auschwitz-Komplex - und bekleidete sie zwischen 1942 und 1943 mit ähnlich banal-bösem Pflichtbewusstsein wie sein Vorgesetzter Höß, 1947 in Polen zum Tode verurteilt.

Mulka war zuständig für Beschaffung und Transport des Giftgases Zyklon B, das in den Gaskammern eingesetzt wurde - und den Transport der Gefangenen an den Ort ihrer Ermordung.

Wenige Monate nach Olympia verhaftet

Am Ende des Zweiten Weltkrieges war Mulka nicht mehr in Auschwitz – eine Denunziation wegen angeblicher Lästerei über Reichspropagandaminister Joseph Goebbels kostete ihn seinen Posten.

Wegen seiner SS-Mitgliedschaft wurde Mulka nach Kriegsende in Hamburg von den britischen Besatzern verhaftet und interniert, 1948 aber entlassen und galt schließlich als entlastet. Er nahm seinen bürgerlichen Beruf als Exportkaufmann wieder auf.

Der sportliche Erfolg des Sohns machte die Auschwitz-Ermittler zwölf Jahre später auf Aufenthaltsort und Lebensumstände der rechten Hand von Rudolf Höß aufmerksam.

Im November 1960 wurde Robert Mulka verhaftet und war ab 1963 Hauptangeklagter im ersten Auschwitzprozess. Der eindrucksvolle, im vergangenen Jahr veröffentlichte Film „Die Ermittlung“, angelehnt an das Theaterstück von Peter Weiss und aktuell in der ARD-Mediathek zu sehen, erinnert an den wegweisenden Fall.

Lügen und Uneinsichtigkeit vor Gericht

Robert Mulka leugnete vor Gericht seine Schuld, behauptete, nichts von Vergasungen gewusst zu haben, erstattete sogar noch Anzeige gegen Staatsanwalt Kügler wegen Beleidigung, weil der ihn „Angehöriger eines uniformierten Mordkommandos“ nannte.

Dem uneinsichtigen Mulka konnte allerdings durch Aktenauswertungen und Zeugenaussagen nachgewiesen werden, dass er mindestens vier Einsatzbefehle für Mordaktionen gab und bei mehreren „Selektionen“ an der berüchtigten Rampe zugegen war - bei denen ankommende Häftlinge aufgeteilt wurden: noch ins Lager für Arbeitsdienste oder andere Zwecke oder in den meisten Fällen sofort in die Gaskammern.

Robert Mulka wurde 1965 wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein Jahr später wurde der damals 70-Jährige wegen Haftunfähigkeit entlassen, starb 1969 in Hamburg.

Der 1927 geborene Sohn Rolf Mulka starb im Jahr 2012, seine Enkelin Friederike Belcher nahm im selben Jahr in der 470er-Klasse bei Olympia in London teil.