Florian Lipowitz ist DIE Entdeckung der diesjährigen Tour de France. Aktuell liegt der 24-Jährige sensationell auf Rang drei im Gesamtklassement und hat in Deutschland eine Rad-Euphorie ausgelöst.
Tour de France: Lipowitz wie Jan Ullrich? "Das finde ich nicht fair"
Lipowitz wie Ullrich? „Nicht fair“
Im Gespräch mit SPORT1 blickt sein Trainer John Wakefield, Director of Development bei Red Bull - Bora - hansgrohe, auf das, was Lipowitz schon erreicht hat, den Vergleich mit der deutschen Rad-Legende Jan Ullrich und kündigt an, dass bei Lipowitz noch viel mehr möglich ist!
SPORT1: Herr Wakefield, Sie sind der Trainer von Florian Lipowitz. Wie erleben Sie ihn bisher bei der Tour de France?
John Wakefield: Das muss man unter zwei Aspekten sehen. Zum einen er als Person, wo es viel um seine Reife und sein Alter geht und zum anderen seine sportliche Leistung auf dem Rad. Schaut man auf seine sportliche Leistung, hat er die Erwartungern ganz sicher deutlich übertroffen und zeigt schon jetzt einiges, was wir ihm zugetraut haben, als wir ihn verpflichtet haben und auch, warum wir an ihn geglaubt haben. Er erfüllt unsere Hoffnungen jetzt schon deutlich früher, als wir alle gedacht haben. Das ist toll. Uns beeindruckt aber auch seine Entwicklung auf der persönlichen Ebene. Er ist deutlich reifer geworden, speziell auch, wie er die Pflichten eines professionellen Athleten erfüllt.
SPORT1: Welche Rolle spielen Sie als sein Trainer bei dieser Entwicklung?
Wakefield: Als Trainer plane ich sein Training und werte auch seine Daten aus. Dabei schaue ich auch ganz genau auf die Leistungsumgebung. Meine Beziehung zu Florian ist sehr gut und sehr eng. Da gehört alles dazu, egal ob es ums Training geht, seine Leistungsdaten oder darum, ihm zuzuhören. Speziell solche Kleinigkeiten sind sehr wichtig.
SPORT1: Aktuell scheint wegen der Leistungen von Lipowitz wieder so etwas wie Radsport-Euphorie in Deutschland aufzukommen. Was bedeutet ihm das?
Wakefield: Diese große Aufmerksamkeit ist für ihn auch etwas Neues. Allerdings war er auch schon vorher sehr erfolgreich, hat unter anderem die Czech Tour gewonnen und war letztes Jahr unter den Top-10 bei der Vuelta. Er hat also schon auf dem allerhöchsten Niveau abgeliefert. Dieses Jahr hat er seinen Leistungen aber natürlich nochmal extrem gesteigert. Da ist es klar, dass auch die Aufmerksamkeit größer wird, aber er wächst damit. Er versteht, dass das auch dazu gehört, wenn man seine eigene Leistung auf ein neues Level bringt, speziell hier bei der Tour de France. Aber er geht damit sehr gut um, auch mit dem größeren Druck. Das Gute ist, dass wir ein sehr gutes Team um ihn herum haben, das auch etwas Druck von seinen Schultern nimmt. So kann er sich auf seine Hauptaufgabe, das Radfahren, sehr gut fokussieren.
„Das wäre eine wahnsinnige Auszeichnung für Florian“
SPORT1: Blicken wir noch ein bisschen auf die aktuelle Tour. Lipowitz trägt das Weiße Trikot für den besten Jungprofi. Kann er das Trikot bis Paris tragen und die Wertung gewinnen?
Wakefield: Auf dem Papier sollte er es schon schaffen, das wünschen wir uns natürlich auch. Leider entscheiden sich Rennen aber nicht in der Theorie. Es kann schon noch einiges passieren in den nächsten Tagen. Aber es ist eines unserer Hauptziele, dass er mit dem Weißen Trikot über die Champs-Elysees in Paris fährt. Das wäre eine unglaubliche Ehre für das Team und gleichzeitig eine wahnsinnige Auszeichnung für Florian.
SPORT1: In den kommenden Tagen warten noch einige harte Aufgaben. Worauf wird es für Lipowitz dabei speziell ankommen?
Wakefield: Es ist echt schwer, beim Radsport etwas vorherzusagen. Man weiß eigentlich nie, was passiert. Manchmal geht man in einen Tag und denkt, dass es ein superleichter und entspannter Tag wird, und plötzlich wird es doch der schwierigste und härteste Tag. Das Hauptziel ist, dass er ruhig bleibt, sein eigenes Rennen fährt und versucht, keine Zeit zu verlieren. Natürlich wird um ihn herum viel passieren, egal ob Angriffe der Konkurrenz hinter ihm oder Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard, die um den Sieg kämpfen. Das kann er nicht beeinflussen. Ziel ist es aber, jeden Tag eine weitere Etappe abzuhaken und weiter in einer guten Position zu sein.
SPORT1: Am Mont Ventoux arbeitete er unglaublich stark mit seinem Kapitän Primoz Roglic zusammen, der in der Gesamtwertung aktuell ja hinter ihm liegt. Wie sehen Sie Roglic als Kapitän und speziell auch die Beziehung der beiden?
Wakefield: Beide respektieren sich sehr und ich habe das Gefühl, dass ihre Beziehung aktuell sogar nochmal enger und stärker wird. Roglic ist natürlich jemand, den man allein schon wegen seiner zahlreichen Erfolge respektieren muss. Er hat mehr große Rundfahrten gewonnen, als ich Freundinnen hatte (lacht). Florian respektiert ihn also sehr und schaut auch zu ihm auf. Aber auch Primoz respektiert ihn sehr. Er erkennt in ihm bestimmt viele Dinge aus seiner Anfangszeit wieder. Auch er war Quereinsteiger und ging einen ungewöhnlichen Weg in den Sport. Allein dadurch haben sie eine spezielle Beziehung, weil sie eben erst später zum Sport kamen und somit auch erst deutlich später ihrer ersten großen Erfolge im Sport hatten. Das sieht er bestimmt einige Parallelen und respektiert ihn sehr.
„Wir können noch extrem viel aus ihm herausholen“
SPORT1: Sie sprachen es schon kurz an. Florian Lipowitz wechselte erst 2022 voll zum Radsport, war vorher Biathlet. Gibt es Bereiche, wo er deshalb noch Nachteile hat, oder gibt es vielleicht sogar Bereiche, wo er dadurch Vorteile hat?
Wakefield: Ich finde, dass es ein Vorteil für ihn ist, ganz einfach, weil er auch noch viel lernen kann. Auch aus physiologischer Sicht: Da fehlt ihm eigentlich nichts, sondern es ist eher etwas, wo er sich gemeinsam mit uns noch verbessern kann. Wenn man von außen drauf schaut, auf die letzte beiden Jahre, könnte man vielleicht sogar meinen, dass ihm eigentlich gar nichts fehlt. Trotzdem kann man sich natürlich immer verbessern. Speziell, weil er eben noch nicht so lange professionell Rad fährt, können wir noch extrem viel aus ihm rausholen. Er hat physiologisch also bei Weitem noch nicht seinen Peak erreicht. Schaut man sich andere Fahrer an, die vielleicht schon mit zwölf angefangen haben, gehen sie in seinem Alter schon langsam auf das Karriereende zu. Da bist du mit 25 fast schon alt (lacht). Speziell aus dieser Sicht warten noch spannende Jahre auf uns, in denen wir noch mehr aus ihm herauskitzeln können.
SPORT1: Gibt es eine spezielle Fähigkeit oder Eigenschaft, die ihn schon jetzt besonders auszeichnet?
Wakefield: Er hat einen besonderen Motor und starke Beine. Er ist einfach ein Vollblut-Athlet, hat diese speziellen Gene, die ein Top-Athlet braucht. Er war ja auch im Biathlon schon sehr erfolgreich. Diese besondere Physis zeichnet ihn also auf jeden Fall aus. Eine weitere besondere Fähigkeit ist, dass er immer mehr lernen will und immer professioneller wurde. Zudem ist er sehr leidensfähig, was im Radsport sehr wichtig ist. Wenn du im Radsport länger leiden kannst als dein Konkurrent, hast du gute Chancen, erfolgreich zu sein. Es kommt nicht immer nur auf die Physis an. Radsport ist auch ein Sport, wo es extrem auf die mentale Stärke ankommt. Wenn du da etwas länger leiden kannst, gelingt es dir auch, den extra Meter zu machen, um vor deinem Konkurrenten ins Ziel zu kommen.
Lipowitz wie Jan Ullrich? „Finde ich nicht fair“
SPORT1: Wir wollen auch etwas in die Zukunft blicken. Jan Ullrich gewann 1997 im gleichen Alter die Tour de France. Kann Lipowitz in der Zukunft in seine Fußstapfen treten?
Wakefield: Das kann ich nicht beantworten. Zudem finde ich es persönlich auch nicht fair, solch einen Druck auf Lipo aufzubauen. Er ist noch sehr jung, speziell, wenn wir auf seine Trainings- und Rennerfahrung schauen. Da ist das Letzte, was wir machen wollen, auch noch übertriebenen Druck aufzubauen. Eine bessere Herangehensweise wäre es, uns einen Weg zu überlegen, wie wir ihn als Land oder als Fans unterstützen können, dass er in solch eine Rolle hineinwachsen kann, anstatt zu sagen, dass er das schaffen muss.
SPORT1: Kann man denn sagen, dass er das Potenzial hat, in Zukunft gegen Pogacar und Co. um den Tour-Sieg zu kämpfen?
Wakefield: Ich kann leider nicht in die Zukunft schauen. Als sein Trainer würde ich mir natürlich wünschen, dass er das schafft. Aber man kann sowas nur schwer voraussagen. Schauen wir zum Beispiel mal auf Jonas Vingegaard. Überall wurde vor der diesjährigen Tour geschrieben, dass er die beste Form seiner Karriere hätte und, dass das Team eine super Strategie hat. Doch aktuell liegt er trotzdem deutlich hinter Pogacar. Es ist aber selbstverständlich immer das Ziel, der Beste zu sein.