Der völlig ahnungslose Gipfelstürmer Egan Bernal wurde in rasender Abfahrt von einem Begleitmotorrad gestoppt, dahinter diskutierten die Konkurrenten um Emanuel Buchmann gestenreich auf ihren Velos.
Buchmann mit Kampfansage
© DPA Picture Alliance
Und unten im Tal kämpften Mensch und Gerät verzweifelt gegen Hagelmassen und Erdreich auf der Strecke: Die 19. Etappe der Tour de France ist im Wetterchaos der Alpen versunken und kurz vor ihrem Showdown abgebrochen worden - offiziell blieb sie ohne Sieger.
Einen großen Gewinner gab es dennoch: Der kolumbianische Youngster Bernal hatte als Erster die Passhöhe des Col d'Iseran auf 2770 m erreicht, kurz bevor die Jury vor der Natur kapitulierte. Die Entscheider wollten zwar keinen Etappensieger küren, werteten die Zeitabstände auf dem Iseran aber für das Gesamtklassement. Bernal durfte damit im geplanten Etappenziel in Tignes das Gelbe Trikot überstreifen - und hat nun den Tour-Sieg dicht vor Augen. (SERVICE: Die Gesamtwertung der Tour de France)
Entscheidende Etappe drastisch verkürzt
Für ihn, Buchmann und alle anderen folgt am Samstag "der Showdown" dieser Tour de France, allerdings wird der ganz anders aussehen als ursprünglich geplant. Wegen der Wetterprognosen und der Gefahr weiterer Erdrutsche verkürzte der Veranstalter das Teilstück zwischen Albertville und Val Thorens von 130 auf nur noch 59 Kilometer.
33,4 km bergauf werden den Profis nach fast drei Wochen Anstrengung als letzte gewaltige Schwierigkeit abverlangt, fast 1900 Höhenmeter sind zu überwinden. Im höchstgelegenen Skiort Europas dürfte damit der Tour-Sieger gekürt werden - irgendwie passend angesichts der Bilder vom Freitag.
Bernal: "Ich wollte heulen"
"Es ist unglaublich, dass ich Gelb habe. Ich kann nicht fassen, was passiert ist", sagte Bernal, bei dem die Enttäuschung über die entgangene Chance auf seinen ersten Tour-Etappensieg schnell verflogen war.
Im Gelben Trikot strahlte der Südamerikaner stolz wie Oskar, umarmte Vater German und herzte Freundin Xiomara Guerrero, die ihn im Ziel empfingen - welch' ein Trostpflaster! "Als ich das Trikot und den kleinen Löwen bekommen habe, wollte ich heulen. Ich kann das alles noch nicht begreifen", meinte Bernal, "aber es bleibt noch eine harte Etappe."
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Buchmann kündigt Attacke an
Auch dem deutschen Hoffnungsträger Buchmann konnte der Abbruch nicht die Stimmung verhageln.
"So etwas ist mir noch nicht passiert, die Entscheidung der Jury war aber schon richtig", sagte der 26-Jährige, der beim vorzeitigen Abpfiff rund eine Minute hinter Bernal in einer Verfolgergruppe mit Titelverteidiger Geraint Thomas gelegen hatte: "Ich war gut dabei, bis zum Ziel wäre noch was gegangen. Morgen ist die entscheidende Etappe, da gebe ich alles, ich muss nichts mehr sparen."
In der Gesamtwertung hat Bernal nun einen Vorsprung von 45 Sekunden auf den entthronten Franzose Julian Alaphilippe, der den Iseran 2:07 Minuten nach Bernal überquerte. Thomas ist mit 1:03 Minuten Rückstand Dritter, Buchmann (+1:42) rückte nach der Aufgabe des Franzosen Thibaut Pinot auf Platz fünf vor hinter dem Niederländer Steven Kruijswijk. "Das Podium ist nicht weit weg. Wenn's die Beine hergeben, werde ich attackieren", sagte "Emu".
Tränen-Drama um Pinot
Am Iseran hatte es bereits ein gnadenloses Ausscheidungsrennen gegeben, Buchmann hatte bis dahin mit einem Löwenherzen seine nächste Weltklasseleistung gezeigt. Alaphilippe musste im oberen Abschnitt nach einer Tempoverschärfung abreißen lassen. Für Frankreichs Tour-Träume war der Tag schon zuvor dramatisch verlaufen. Der bisherige Gesamtfünfte Thibaut Pinot vergoss bittere Tränen, als er knapp 40 km nach Rennstart wegen einer Muskelverletzung aussteigen musste.
Bei Pinot versagte der Körper den Dienst. Der Franzose umarmte unter Tränen noch seinen Teamkollegen William Bonnet, dann stieg er weinend in ein Fahrzeug seiner Mannschaft Groupama-FDJ. Pinot, Dritter von 2014, gab bei der Tour damit nach 2016 und 2017 zum dritten Mal in Serie auf. 2018 war er wegen der Folgen einer beim Giro d'Italia erlittenen Lungenentzündung nicht am Start. In den Pyrenäen siegte Pinot am Tourmalet und besaß noch alle Chancen auf den ersten französischen Toursieg seit Bernard Hinault 1985.