Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff sieht eine zu starke Fokussierung auf das Spielerische als Grund für heutige Defizite im deutschen Fußball und gibt damit zum Teil Mehmet Scholl Recht. Der ehemalige TV-Experte hatte in seiner Radiosendung "Mehmets Schollplatten" im Bayerischen Rundfunk im Dezember 2017 unter anderem bemängelt, dass das Individuum heutzutage im Fußball keine Rolle mehr spiele.
Bierhoff gibt Scholl Recht
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"Wir haben es eine Zeit lang fast übertrieben, was die Technik angeht. Alles auf Spaß, alles auf Freude. Es fehlen jetzt die klassischen Strafraumspieler, teilweise fehlt auch die Abschlussstärke. Jeder will jetzt auch ein bisschen spielen", sagte Bierhoff am Dienstag auf dem Sportbusiness-Kongress SPOBIS in Düsseldorf.
Zudem betonte er: "Ich glaube, dass wir sehr systemverliebt waren in den letzten Jahren. Doppelsechs, hängende Neun, das alles. Vielleicht haben wir darüber ein bisschen verpasst, die Individualtechnik einzubringen. Eins-gegen-eins-Situationen, Mann gegen Mann."
Bierhoff fordert neue Impulse
Genau das hatte auch Scholl schon befürchtet: "Die Kinder dürfen sich nicht mehr im Dribbling probieren, sie kriegen nicht mehr die richtigen Hinweise, warum ein Pass nicht gelingt, warum ein Dribbling nicht gelingt, warum ein Zweikampf verloren wurde. Stattdessen können sie 18 Systeme rückwärts laufen und furzen". Damals musste er für seine drastischen Worte viel Kritik einstecken.
Scholl hatte gewarnt, dass unbequeme Typen aussortiert werden und so nur "eine weichgespülte Masse ankommt, die erfolgreich sein wird, aber niemals das Große gewinnen wird".
Auch Bierhoff forderte nun, "neue Impulse zu setzen, die - nicht ganz so stark - in die andere Richtung gehen." Dies sei insbesondere im Vergleich mit anderen Nationen wichtig, die laut Bierhoff "tierisch aufgeholt haben".
Meikelwitz und Flick geben Scholl Recht
Die meisten fanden seine Kritik überzogen, einzig Meikel Schönweitz, Sportlicher Leiter aller U-Mannschaften beim DFB, gab Scholl im Grundsatz recht. "Wir haben ein Problem der Gleichschaltung im Jugendbereich. Individualität im Fußball wird so nicht gefördert. Jeder sucht nach Typen, aber das System lässt es im Moment gar nicht zu. Das System verhindert das sogar", meinte Schönweitz zur Bild.
Kurz darauf sah Hansi-Flick, Sport-Geschäftsführer bei Bundesligist TSG Hoffenheim und ehemaliger DFB-Sportdirektor, bei Scholls Grundsatzkritik am deutschen Fußball immerhin einen wahren Kern. "Über die Art und Weise darf man sicher geteilter Meinung sein, aber was die sachliche Kritik an der Ausbildung betrifft, hat Mehmet in Teilen sicher recht", sagte Flick der Süddeutschen Zeitung.
Flick meinte: "Was Positionsspiel und Gruppendynamik anbelangt, wird in Deutschland hervorragend ausgebildet, aber was die Förderung der individuellen Fähigkeiten anbelangt, gibt es tatsächlich Luft nach oben." Er vermisse Spieler, "die sich nicht nur auf (das) System verlassen oder hinter dem System verstecken, sondern die Verantwortung für eine Einzelaktion übernehmen".
Flick appellierte an die Ausbilder, "dass man die Rohdiamanten und kleinen Genies bitte nicht in ein Schema presst. Denn das sind genau die Talente, die später mal mit ihrer Individualität die Spiele entscheiden werden."
Nach dem ersten großen Aufschrei scheint Scholls Kritik im Nachhinein doch beim DFB Anklang gefunden zu haben. Manager Bierhoff setzt nun große Hoffnung in die DFB-Akademie, die bis 2020 in Frankfurt/Main entstehen soll: "Wir hoffen, dass die Sportler, Experten und Wissenschaftler sich dort gegenseitig pushen und sich immer wieder gegenseitig verbessern."