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Der Torwart, der zum Sündenbock einer großen Fußball-Nation wurde

Ein ewiges WM-Trauma mit Folgen

Heute vor 75 Jahren verspielte WM-Gastgeber Brasilien sensationell den Titel gegen Uruguay. Der afrobrasilianische Torhüter Moacyr Barbosa wurde in der Heimat zum Sündenbock gemacht - und spürte die Folgen bis an sein Lebensende.
Brasilien verlor das WM-Finale 1950 gegen Uruguay
Brasilien verlor das WM-Finale 1950 gegen Uruguay
© IMAGO/Marca
Heute vor 75 Jahren verspielte WM-Gastgeber Brasilien sensationell den Titel gegen Uruguay. Der afrobrasilianische Torhüter Moacyr Barbosa wurde in der Heimat zum Sündenbock gemacht - und spürte die Folgen bis an sein Lebensende.

Der gewaltige Schock, den Brasilien im Halbfinale der WM 2014 erlitt, wirkt bis heute nach. Eine Blamage, die so sehr wehtat, weil sie so unerwartet kam, surreal und demütigend. Das historische 7:1 der deutschen Nationalmannschaft stürzte eine ganze Nation in einen Strudel der Trauer und hinterließ bleibende Narben. Doch das größte Fußballtrauma des Landes spielte sich schon viel früher ab. Genau heute vor 75 Jahren.

Allen war klar: Der 16. Juli 1950 sollte kein Tag wie jeder andere werden. Und - so viel sei vorweggenommen - das wurde er auch nicht. Und die Konsequenzen verfolgten vor allem einen der Beteiligten bis an sein Lebensende.

Brasilien war haushoch favorisiert

Damals wie 2014 fand eine WM in Brasilien statt. In beiden Fällen war die Erwartungshaltung an das eigene Team riesig, 1950 jedoch nochmal deutlichen höher. Sage und schreibe 200.000 Fans füllten das legendäre Maracana schon Stunden vor dem Anpfiff.

Ein ganzes Land rechnete mit einem Triumph. Die beiden folgenden Tage galten bereits als arbeitsfrei, alle Lokalitäten waren für die Siegesfeiern ausgebucht. Ein Scheitern? Aus Sicht der Brasilianer unmöglich. „Niemand auf der Welt kann mit euch mithalten”, betonte etwa Rios Bürgermeister Ângelo Mendes de Moraes vor dem Endspiel und fügte hinzu: „Ich gratuliere euch bereits zum Sieg.” Die nationalen Zeitungen titelten am Morgen des großen Tages: „Heute wird Brasilien Weltmeister.”

Fairerweise kam die Stimmung der Südamerikaner, die sich zwischen purer Arroganz und grenzenlosem Optimismus bewegte, nicht von ungefähr. Brasilien war tatsächlich haushoher Favorit. Die Selecao hatte im Jahr zuvor die Copa América in höchst beeindruckender Manier gewonnen - mit einer Tordifferenz von plus 39 und einem Schnitt von sechs Toren pro Partie. Gegner Uruguay landete gleichzeitig auf dem drittletzten Platz.

Und bei der WM waren die Brasilianer noch dominanter. Sie fegten Schweden und Spanien mit 7:1 und 6:1 vom Platz, während sich die Uruguayer gegen die gleichen Gegner mit einem 3:2 und 2:2 begnügen mussten. Bei der ersten Endrunde nach dem Zweiten Weltkrieg schien der Sieger nur logisch. Vor allem, weil Brasilien im damaligen Endrundenmodus mit einer Finalgruppe schon ein Unentschieden für den Gewinn des Jules-Rimet-Pokals reichte. Doch alle erwarteten mehr als das, und zwar einen deutlichen Sieg.

“Nur drei Menschen brachten das Maracana zum Schweigen”

Zunächst lief es auch gut. Kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit erzielte Friaca den überfälligen Führungstreffer für Brasilien. Es sah so aus, als würde endlich alles den erwarteten Lauf nehmen. Aber eben nur bis zur 66. Minute. Dann erzielte Juan Schiaffino den Ausgleich und ließ den ohrenbetäubenden Lärm im Stadion innerhalb eines Moments verstummen. Brasilien verlor nach dem Gegentor komplett den Faden - und es wurde noch viel schlimmer.

In der 79. Minute belohnte Alcides Ghiggia die taktische Disziplin des Außenseiters und sorgte für das Unvorstellbare: 2:1 für Uruguay. Brasiliens Nationaltorwart Moacyr Barbosa ging einen fatalen Schritt nach vorne, was Ghiggia blitzartig realisierte: eine kurze Berührung des Balls mit dem Außenrist ins rechte, ins kurze Eck – und damit mitten ins Herz der fußballverrückten Gastgeber. Der Maracanaco, der Schock von Maracana, war perfekt. Zehntausende Leute trauten ihren Augen nicht.

„Nur drei Menschen brachten das Maracana zum Schweigen: der Papst, Frank Sinatra und ich”, sagte Siegtorschütze Ghiggia später. Die FIFA übergab den Sensations-Weltmeistern schnell die Trophäe, auf eine feierliche Zeremonie wurde lieber verzichtet. Auf den Tribünen, so heißt es, meldete die Polizei vier Tote durch Suizid oder Herzinfarkt. Die Pleite gegen den Erzrivalen ist für Brasilien noch immer das „größte Trauma der Sportgeschichte”. Größer als das von 2014.

Brasilianer machten Torwart für Pleite verantwortlich

Auf Seiten der Brasilianer nahm das Entsetzen unschöne Züge an. Nach bis heute bestehenden, nicht bestätigten Gerüchten soll Chefcoach Flavio Costa aus Angst das Stadion heimlich als Frau verkleidet verlassen haben. In der Öffentlichkeit galten die WM-Zweiten fortan als kollektive Versager. Nur vereinzelt wurden die damaligen Verlierer überhaupt noch zu Länderspielen berufen.

Noch schlimmer: Unter die Trauer mischte sich Rassismus. Vor allem drei Spieler machte man für das Desaster verantwortlich. Alle drei waren schwarz, darunter Torwart Barbosa, dessen öffentliches Ansehen sich nie wieder erholen sollte. Er wurde zur Persona non grata, zur geächteten Person und wandte sich aus Frust vom Fußball ab. Sein Schicksal wurde zum Thema von Filmen und Romanen.

Noch über 40 Jahre nach dem verlorenen Entscheidungsspiel wurde Barbosa gedemütigt, vor einem WM-Qualifikationsspiel für das Turnier 1994 in den USA soll der damalige Trainerstab Nationaltorwart Claudio Taffarel den Kontakt zu Barbosa verboten haben.

Ein Verbandsfunktionär soll damals den Rauswurf des über 70 Jahre alten Barbosa aus dem Stadion veranlasst haben - mit den Worten: „Schafft ihn fort, er bringt nur Pech.“

„Ich fühle mich noch immer eingekerkert“

„In Brasilien sieht das Gesetz 30 Jahre Haft für einen Mord vor“, sagte Barbosa kurz vor seinem Tod im Jahr 2000 in einem Interview: „Es ist weit mehr als diese Zeit seit dem Finale von 1950 vergangen, und ich fühle mich noch immer eingekerkert, die Menschen sehen in mir immer noch den Schuldigen für unsere Niederlage.“

Auch Ademir, ebenfalls Teil des Teams, sprach nach dem tragischen Ende der WM 1950 von einer „großen Leere. Die Seele eines Spielers verlässt den Rasen nie“.

Der ersehnte erste WM-Titel gelang der nächsten Generation der Selecao mit dem genialen Garrincha und dem jungen Pelé 1958 in Schweden, vier weitere folgten.

Uruguay hingegen stand nach dem zweiten WM-Titel 1950 nie wieder in einem Weltmeisterschafts-Finale. Doch dieses eine, entscheidende Spiel, das sie bestritten haben, wird aus den Köpfen ihres Nachbarn wohl niemals so ganz verschwinden.