Marco Pezzaiuoli hat schon viel erlebt im Fußballgeschäft. Er war unter anderem Trainer bei der TSG Hoffenheim, da war David Alaba einer seiner Spieler, als er vom FC Bayern ausgeliehen wurde. Im Jugendbereich des Deutschen-Fußball-Bundes und beim japanischen Klub Cerezo Osaka war Pezzaiuoli auch als Fußballlehrer tätig. Zudem arbeitete er mal als Nachwuchskoordinator beim chinesischen Meister Guangzhou Evergrande. Seit November 2022 ist Pezzaiuoli Technischer Direktor bei Galatasaray Istanbul.
"Der Respekt vor Bayern ist noch da, aber …": Galatasaray-Direktor Pezzaiuoli heiß auf CL-Duell!
„Bayern ist zarter Favorit, aber…“
Vor dem Heimspiel der Türken in der Champions-League-Gruppenphase gegen den FC Bayern am Dienstagabend (Champions League: Galatasaray Istanbul - FC Bayern, ab 18.45 Uhr im LIVETICKER) hat der 54-Jährige SPORT1 ein Exklusiv-Interview gegeben.
Galatasaray im Höhenflug
SPORT1: Herr Pezzaiuoli, Galatasaray ist Tabellenzweiter in der Champions-League-Gruppe, hat zuletzt sogar Manchester United auswärts geschlagen. Noch kein Spiel wurde in dieser Saison verloren. Wie kommt sowas?
Marco Pezzaiuoli: Das ist wunderbar, ist sicher ein Erfolg vom gesamten Trainerteam. Trainer Okan Buruk macht einen hervorragenden Job. Unser Vizepräsident Erden Timur hat vergangene Woche nochmal erwähnt, dass die Arbeit der Scoutingabteilung klasse war. Die Früchte der ganzen wertvollen Arbeit sind die Qualität der Mannschaft. Wir sind aber noch längst nicht am Ende des Tunnels, wir möchten uns natürlich für die nächste Runde in der Champions League qualifizieren. Der FC Bayern ist immer noch eine hohe Hürde, da brauchen wir eine top Leistung, um am Dienstagabend als Sieger vom Platz zu gehen.
SPORT1: In der Süper Lig hat Galatasaray den besten Kader seit zehn Jahren, sagte zuletzt auch Lukas Podolski. Was ist mit diesem Kader drin?
Pezzaiuoli: Leute, die von außen auf unsere Mannschaft schauen, sehen erstmal die Namen und die Erfahrung der einzelnen Spieler. Aber Fußball ist immer noch ein Mannschaftssport. Da musste auch bei uns erstmal etwas zusammenwachsen. Unseren Trainer kann ich da nicht genug loben. Es brauchte etwas Zeit und wir sind wie schon erwähnt nicht am Ende des Weges. Dass wir aber schon so gut zusammengefunden haben, ist beachtlich. Unser Trainerteam und die neuen Spieler sind erst spät zusammengekommen. Unser Coach hat in der Vorbereitung durch die Qualifikationsspiele nicht auf alle Spieler zurückgreifen können und hat Geduld bewiesen. Das war sicher der Schlüssel des Erfolgs. Die Zugänge mussten taktisch, physisch und athletisch auf ein gewisses Level kommen. Am Anfang war es noch etwas holprig, aber mehr und mehr hat sich das Team gefunden und ist zu einer Einheit zusammengewachsen.
Wie konnte Gala Spieler wie Icardi holen?
SPORT1: Wie kam es dazu, dass man solche prominenten Spieler wie Mauro Icardi (kam für 10 Millionen von PSG, Anm. d. Red.) oder Kerem Demirbay (für 3,7 Mio. aus Leverkusen) zu Galatasaray holen konnte?
Pezzaiuoli: Der Verein und die historische Stadt Istanbul zusammen mit dem Konzept, das ihnen aufgezeigt wurde, haben die Jungs überzeugt. Bei uns wird nicht kurzfristig, sondern mittel- bis langfristig geplant. Der Präsident und Erden Timur (Vize-Präsident, Anm. d. Red.) haben zusammen mit dem Trainer wirklich tolle Überzeugungsarbeit geleistet. Die Atmosphäre und das Konzept waren sicher greifbar für die neuen Spieler und haben sie neugierig gemacht auf den Klub.
SPORT1: Wie macht sich Kerem Demirbay bei Galatasaray?
Pezzaiuoli: Er ist eine absolute Bereicherung für Galatasaray. Dank seiner Erfahrung in der Bundesliga. Menschlich, persönlich und charakterlich passt er top zu unserer Mannschaft. Zudem hat er sich schnell bei uns eingefunden. Er ist eine tolle Verstärkung. Er ist Türke und das machte es für ihn etwas einfacher.
SPORT1: Was sind die Stärken von Galatasaray?
Pezzaiuoli: Die mannschaftliche Geschlossenheit und die individuelle Qualität. Das Team hat erst spät zusammengefunden. Alle waren geduldig, dass jeder einzelne Spieler langsam herangeführt werden sollte. Es spricht für uns, dass wir seit 17 Spielen ungeschlagen sind und auch nach Rückständen zurückkommen. Die Jungs haben einen großen Siegeswillen und unglaublichen Charakter. Die Liga beflügelt das Trainerteam und die Mannschaft. Natürlich war der Sieg bei ManUnited etwas besonders, aber unsere Heimspiele sind auch besonders, weil unsere Fans uns frenetisch nach vorne pushen. Es herrscht eine enorme Atmosphäre, in der die Spieler über sich hinauswachsen können. Das wird gegen Bayern hoffentlich auch so sein.
„Der Respekt vor Bayern ist noch da, aber ...“
SPORT1: Herrscht noch großer Respekt vor dem FC Bayern?
Pezzaiuoli: Eigentlich schon. Der Respekt vor Bayern ist noch da, aber der Fußball hat sich weiterentwickelt. Da wird auch in anderen Klubs nicht geschlafen. Die Münchner sind in der Offensive überragend bestückt. Der aktuelle Tabellenplatz drei drückt nicht das aus, was in der Truppe steckt. In der Champions League stehen die Bayern auf dem ersten Platz in der Gruppe und die Spieler wachsen über sich hinaus und können ihre Leistung abrufen, wenn sie auf dem höchsten Niveau spielen und den Kitzel bei der Hymne spüren. Hoffentlich spüren die Bayern diesen Kitzel gegen uns nicht. (lacht) Aber es werden gewiss elf Nationalspieler auflaufen. Aber wir werden nicht in Demut verfallen.
SPORT1: Was sagen Sie zur Personalnot bei den Bayern? Jetzt fällt auch noch Leon Goretzka aus.
Pezzaiuoli: Das steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Bei Bayern stehen Spieler auf dem Platz, die enorme Erfahrung in der Champions League haben und auch tragende Säulen der Nationalmannschaft sind. Egal, wer gegen uns im Mittelfeld spielt. Das sind tolle Namen und wunderbare Spieler. Bayern ist zarter Favorit, aber man weiß nie, was wir leisten können mit dieser Energie in unserem Stadion.
„Das hat Alaba nicht gut getan“
SPORT1: Sie haben lange erfolgreich im Nachwuchsbereich gearbeitet. Wie denken Sie über die Jugendarbeit beim FC Bayern und beim Deutschen Fußball Bund?
Pezzaiuoli: Der DFB ist auf dem richtigen Weg. Die neue Konzeption, dass Kinder mehr Ballkontakte, Kreativität, Zweikämpfe und Entscheidungen haben sollen und es kleinere Spielfelder geben soll, gefällt mir. Ich bin davon überzeugt. Das wird auf lange Sicht von Erfolg gekrönt sein. Die Jugendarbeit beim FC Bayern hat sehr gelitten, aber es ist auch wirklich nicht leicht für ein Talent, sich dort durchzusetzen. Der Anspruch ist dort extrem hoch. Es ist einer der besten Vereine in der Welt. Dort sich durchzusetzen, ist unheimlich schwer. Der letzte Spieler, der es geschafft hat, war Jamal Musiala. Davor waren es Müller, Schweinsteiger und Alaba. Musiala war aber ein gekaufter Spieler (kam vom FC Chelsea, d. Red.). Thomas Müller war der Spieler, der klassisch aus der Jugend kam und es nach ganz oben packte. Nur die außergewöhnlichen Talente schaffen den direkten Weg nach oben. So wie es Musiala war oder auch bei Alaba, der ein Jahr bei mir in Hoffenheim spielte, als er von Bayern ausgeliehen war. Es braucht manchmal diese Zwischenstation, wie auch bei Philipp Lahm, als er beim VfB Stuttgart spielte, bevor er dann wieder zum FC Bayern zurückkehrte. Von der Junioren-Bundesliga oder von der zweiten Mannschaft bei Bayern direkt den Sprung in die Champions League - das ist verdammt schwer. Josip Stanisic ist ein Spieler, den der FC Bayern in diesem Sommer für ein Jahr an Bayer Leverkusen verliehen hat, er hat es auch über den Nachwuchs geschafft. Also ähnlich wie bei Lahm. Man muss Geduld haben. Auf dem höchsten Niveau packt es einer von 1000.
SPORT1: Ist Alaba das Parade-Beispiel, wie gut es laufen kann?
Pezzaiuoli: Ja. Er hat den Umweg über Hoffenheim gewählt, das hat ihm gut getan. Ähnlich wie andere Spieler wie Shkodran Mustafi oder Stefan Ortega. Alle haben es über Umwege und mit etwas Geduld auf dem Weg nach oben geschafft. Das Wichtigste ist, dass ein Verein ein Konzept hat und den Spieler begleitet.
Was muss der DFB im Nachwuchs besser machen?
SPORT1: Was muss aber konkret besser werden? Sie waren unter anderem im Nachwuchsbereich beim DFB und in China tätig.
Pezzaiuoli: Bezüglich des deutschen Nachwuchses gibt es verschiedene Ansatzpunkte. Entscheidend ist die Trainerausbildung. Der zweite Punkt ist natürlich, dass der Trainer sich nicht über den Erfolg des Teams definiert, sondern über seine Ausbildung. Dann müssen spielgerechte Felder geschaffen werden, das will der DFB jetzt hinbekommen. Kinder wollen gewinnen und Erfolg haben. Der Wettkampf-Charakter muss bestehen bleiben. Zum anderen ist der Übergangsbereich ein ganz wichtiger Faktor. Da bedarf es an professioneller Struktur. Es hilft nicht nur eine zweite Mannschaft zu haben und Spieler auszuleihen, wichtig ist individuell abgesteckte Betreuung, Begleitung und Optimierung in Form von Fußball, Video, Athletik und Psychologie. Das muss alles individuell auf den Spielern abgesteckt werden.
SPORT1: Was ist für Sie die Basis?
Pezzaiuoli: Die Kommunikation. Man benötigt zweierlei Trainer. Die einen, die eine Weiterentwicklung für sich selbst sehen, aber nicht auf Kosten von Jugendlichen. Das ist das größte Problem im Nachwuchsbereich. Die Bezahlung im Kinderbereich ist zu niedrig. Es wird einfach nicht honoriert. Man braucht auch in dieser Altersstufe Spezialisten. Leider sind die Trainer unter der U15 nicht qualifiziert genug. Jeder möchte ein Nagelsmann sein. Da kann ich auch noch Tedesco nennen, der aus dem Nachwuchs kam.