Schnell wird klar, wie ungewöhnlich und einzigartig es dort ist: Bodö/Glimt ist nach Tromsö IL der zweitnördlichste Verein in Norwegens erster Liga. Im Sommer ist es nahezu immer hell, im Winter fast durchgehend dunkel. Der sportliche Leiter des Klubs, Havard Sakariassen, liefert den Beweis und zeigt SPORT1 die Aussicht aus einem Fenster seiner Wohnung.
Champions League: "Wenn ich zurückdenke, würde ich sagen: Das ist nicht möglich"
Die Exoten vom Polarkreis
„So hell ist es nur kurz“, schmunzelt er. Zwischen Sonnenauf- und -untergang liegen Anfang Dezember nur um die zwei Stunden. Draußen ist es trüb und diesig. Aufgrund der Nähe zur Küste ist man bei peitschendem Wind schnellen Wetterumschwüngen ausgesetzt – Alltag am Polarkreis.
Bodö/Glimt verpasst die dritte Meisterschaft in Folge
Gerade erst verpasste der norwegische Klub nach 2020, 2021, 2023 und 2024 den nächsten Meistertitel. Sie waren der traurige Verlierer eines Herzschlagfinales: Am vergangenen Wochenende sicherte sich Viking Stavanger die Meisterschaft – nur einen Punkt vor Bodö/Glimt. Seit August trennten die beiden Vereine höchstens zwei Punkte.
So richtig enttäuscht sind sie aber nicht. „Wir haben die zweitbeste Saison der Vereinsgeschichte gespielt. Und das, obwohl wir mit der Europa League Doppelbelastung hatten. Jetzt sind wir in der Champions League, auf dem höchsten europäischen Niveau vertreten. Wir machen Schritte nach vorne. Das macht mich glücklich“, lobte Havard Sakariassen im Gespräch mit SPORT1. Nur in der vergangenen Saison sammelte der Klub aus dem Norden Norwegens einen Zähler mehr (71).
Bodö/Glimt ist in den vergangenen Jahren zum neuen norwegischen Hipster-Klub geworden. Er hat die großen Vereine wie Molde FK und Rosenborg Trondheim abgehängt.
Der Klub wurde 1916 unter dem Namen Fotballklubben Glimt gegründet – „Glimt“ bedeutet im Norwegischen „Schimmer“ oder „Lichtblitz“. Kaum ein Name könnte heute besser zu einem Team passen, das aus der Dunkelheit des Nordens heraus auf einmal hell in Europa aufleuchtet.
Bodö/Glimt ist zum insgesamt vierten Mal in der Champions League vertreten. Bei den drei Anläufen zuvor scheiterten die Norweger jedoch jeweils in den Qualifikationsrunden – zum ersten Mal stehen sie nun tatsächlich in der Königsklasse und treten in dieser Woche erstmals die Reise nach Dortmund (21 Uhr im LIVETICKER) an.
„Ich habe schon viel von der Atmosphäre dort gehört. Das Spiel ist der nächste Schritt unserer außergewöhnlichen Entwicklung“, so Sakariassen.
Der Verein stammt aus einer Stadt mit nur 45.000 Einwohnern. Kleiner als Heidenheim, etwa so groß wie Pirmasens – und doch eine der überraschendsten Fußballadressen Europas.
Bodö/Glimt sorgt für Furore
Zwei der wohl bedeutendsten Spiele auf internationalem Niveau waren der fulminante 6:1-Sieg in der Conference League gegen die AS Rom und José Mourinho (Saison 2021/22) und das bemerkenswerte Halbfinale in der Europa League im vergangenen Jahr, als sie sich gegen Tottenham Hotspur mit 1:3 geschlagen geben mussten und ausschieden – spätestens seitdem sind die Norweger in Fußball-Europa bekannt.
In dieser Champions-League-Saison haben sie zwar noch keinen Sieg eingefahren, gegen Tottenham (2:2) und Prag (2:2) aber immerhin Ausrufezeichen gesetzt. Gegen Monaco (0:1), Juventus Turin (2:3) und gegen Galatasaray (1:3) mussten sie sich nur knapp geschlagen geben. „Wir haben in der Königsklasse bereits bewiesen, dass wir mithalten können“, sagt der sportliche Leiter.
Besonders zuhause, im 8.200 Zuschauer fassenden Aspmyra Stadion – dem kleinsten Stadion der Königsklasse – zeigen sie starke Leistungen. Auch weil das raue Klima für Spieler anderer Klubs eine Herausforderung ist.
Vom Bankrott zum Modellklub
Bodö/Glimt war lange Zeit eine Fahrstuhlmannschaft, pendelte zwischen erster und zweiter Liga. 2010 lag der Verein am Boden, war bankrott. Wenige Jahre später begann der fulminante Aufstieg.
Im Jahr 2016 stieg der Verein zuletzt ab und schaffte in der darauffolgenden Saison den direkten Wiederaufstieg - der Wendepunkt. 2019 wurde der Klub völlig überraschend Vizemeister und holte sich im darauffolgenden Jahr die erste Meisterschaft der Vereinsgeschichte - ein Märchen, das selbst im strukturierten Norwegen keiner erwartet hatte.
„Wenn ich zurückdenke, würde ich sagen: Das ist nicht möglich. Heute weiß ich: Es ist möglich. Trotzdem ist es immer noch alles andere als gewöhnlich. Aber wir haben es uns verdient“, sagt Sakariassen.
Doch was ist das Erfolgsgeheimnis? „Wir sind ein kleiner Klub. Die Entscheidungswege sind kurz. Wir sind wie ein Speedboat“, erklärt der 49-Jährige, der seit Juni 2022 als sportlicher Leiter tätig ist. In der Geschäftsstelle arbeiten gerade einmal 20 Leute – ein Champions-League-Teilnehmer im Familienformat.
Geld ist es allerdings nicht, was den Verein so erfolgreich macht. Der Rekordtransfer Albert Gronbaek kam in der Saison 22/23, die Ablöse in Höhe von 4,8 Millionen liegt im überschaubaren Bereich.
Sie wirtschaften streng, zahlen keine absurden Gehälter und gucken genau darauf, was in die Kassen kommt. Auch deshalb ist Bodö kein Magnet für internationale Stars. Doch das wollen sie auch gar nicht sein. Sondern vielmehr: Der perfekte Ausbildungsverein für aufstrebende Jungs, am liebsten aus der Region.
Das norwegische Pendant zu Athletic Bilbao
Die Zusammenstellung des Kaders ist bemerkenswert: Vier Spieler kommen aus Dänemark, einer besitzt sowohl den russischen als auch den britischen Pass – doch der Großteil ist norwegisch. Viele stammen direkt aus der Region.
Das schafft Identität, Zusammenhalt – fast schon ein nordisches Pendant zu Athletic Bilbao. Drei Spieler kommen sogar aus der Kleinstadt Bodö selbst: Kapitän Patrick Berg (ehemals RC Lens), der Ex-Frankfurter Jens Petter Hauge (spielte u.a. für AC Mailand und KAA Gent) und auch der Ex-Herthaner Fredrik André Björkan (u.a. Feyenoord Rotterdam) kehrten zu ihrem Heimatverein zurück.
Ein weiterer ist auch Sakariassen selbst. Er wurde in Bodö geboren, spielte zweimal für den Klub und schlug nach seinem Karriereende eine Laufbahn als Verantwortlicher ein: „Ich liebe es einfach hier. Und wenn ich sehe, wie sich alles hier entwickelt, ist das überragend. Für mich ist das hier eine ganz besondere Reise.“
Der Verein hat sich einen Satz auf die Fahnen geschrieben: „Wir glauben nicht an Ergebnisse“, führte der 49-Jährige weiter aus: „Andere Vereine sprechen über Ergebnisse, wir über Leistung. Das mag vielleicht komisch klingen. Wir konzentrieren uns einzig und allein auf die Entwicklung der Mannschaft und der Spieler.“
Selbst wenn Sakariassen auf Ziele, Träume und Visionen angesprochen wird, weist er gebetsmühlenartig auf dieses Mindset und harte Arbeit hin.
Die gelbe Zahnbürste – Kult aus den 70ern
Der Verein hat zweifellos eine der kuriosesten Traditionen Europas: Bei jedem Spiel von Bodö/Glimt taucht eine überdimensionierte gelbe Zahnbürste im Fanblock auf. Der Ursprung liegt in den 70er-Jahren, wie der sportliche Leiter erklärt: „Wenn Fans zum Fußball gingen und anschließend in der Stadt Party machten, haben einige von ihnen oft nicht mehr mitgenommen als eine Zahnbürste.“
Denn wo sie am Ende des Abends enden und schlafen würden, war vielen offenbar nicht immer klar. Die Geschichte: Ein Anhänger einer der ersten Fangruppierungen zückte damals im Stadion seine Bürste und benutzte sie als Dirigierstab für die Fangesänge – die Tradition war geboren.
Die Liga-Saison ist für Bodö/Glimt seit vergangenem Wochenende vorbei. Aufgrund des Wetters geht die Eliteserien nur von Ende März bis Ende November. Mindestens drei Partien – im besten Fall noch mehr – stehen für die Mannschaft in dieser Spielzeit noch auf dem Programm: Dortmund, Manchester City und Atlético Madrid. Der Einzug in die Playoff-Runde wäre wohl nur mit drei Siegen denkbar.
Doch auf die Frage nach diesem großen Ziel zuckt Sakariassen nur mit den Schultern: „Wir wollen einfach wir selbst sein und aus diesen Spielen lernen. Am Ende bekommst du immer das, was du verdienst.“
Was den Fußball des Teams auszeichnet? Intensiver, offensiver und mutiger Fußball – völlig unabhängig vom Gegner. Mit genau diesem Stil haben sie bereits einige Hochkaräter überrascht. Der BVB sollte gewarnt sein.
Am Polarkreis glaubt man nämlich mittlerweile daran, dass das Unmögliche möglich ist.