Losglück ist immer eine Frage der Perspektive. Insofern müsste Deutschland bereits im Halbfinale stehen - eigentlich. Die Auswahl des DHB gehört schließlich bereits zum 18. Mal zu den besten acht Mannschaften einer Weltmeisterschaft. Viertelfinalgegner Katar ist erst zum fünften Mal überhaupt dabei. Beste Platzierung bisher: Platz 13 bei der WM 2003. Klare Sache also, oder? Von wegen! Die Deutschen sind vor dem Spiel gegen den Gastgeber am Mittwoch (ab 16 Uhr im LIVETICKER bei SPORT1) gewarnt. Denn der vermeintliche Außenseiter ist längst kein solcher mehr.
Katar kann zum deutschen Albtraum werden
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"Katar wird Weltmeister"
Der Multikultitruppe sei selbst der Titel zuzutrauen, heißt es. "Ich glaube, Katar wird Weltmeister", sagte der österreichische Teamchef Patrekur Johanesson nach der Pleite seines Teams im Achtelfinale, auch mit einigem Groll über manch zweifelhafte Schiedsrichter-Entscheidung zugunsten der Gastgeber. Und Frankreichs Erfolgstrainer Claude Onesta meinte: "Katar kann bei der Heim-WM riesige Überraschungen schaffen." Für ihre Thesen gibt es plausible Gründe. SPORT1 erklärt, warum Katar für Favorit Deutschland zum Albtraum werden kann.
• Weil es zu Hause am schönsten ist. Keine Plattitüde. Zum einen sind da die Fans. Die kommen, wenn Katar spielt - im Gegensatz zu allen anderen WM-Spielen - in Scharen. 12.400 Zuschauer waren es gegen Weltmeister Spanien, 12.200 Anhänger gegen Österreich. Viel schwerer wiegt aber der vermeintliche Bonus bei den Schiedsrichtern. Österreich fühlt sich im Achtelfinale verpfiffen. Die Kroaten Matja Gubica und Boris Milosevic sollen die Kataris nach der Pause begünstigt haben, lautet die Kritik. "Von den 50:50-Entscheidungen werden wir nicht so viele auf unserer Seite haben", sagte deswegen Uwe Gensheimer bei SPORT1. "Dann müssen wir ein bisschen besser sein als ein oder zwei Tore Vorsprung."
Eines ist klar: Dem Weltverband ist daran gelegen, dass der Gastgeber lange mitmischt. 220 Millionen Euro und damit das Zehnfache der WM 2007 in Deutschland hat das Großprojekt schließlich gekostet. IHF-Präsident Hassan Moustafa umgeben zudem seit Jahren Anschuldigungen wegen möglicher Manipulationen - darunter auch die angebliche Bestechung von Schiedsrichtern. Markant: Moustafa ist der Mann, der das Turnier erst ins Emirat brachte.
• Der Trainer ist ein Genie. Zwischen 1996 und 2000 führte Valero Rivera den FC Barcelona zu fünf Champions-League-Siegen in Folge, 2013 wurde Spanien unter ihm im eigenen Land Weltmeister. In 21 Jahren holte der Spanier mit den Katalanen 70 (!) Titel. Bayern-Trainer Pep Guardiola nennt ihn "den berühmtesten Namen, den der Handball zu bieten hat". Der heute 61-Jährige lässt sein Team kompakt verteidigen, sucht den Erfolg über schnelle Gegenstöße. Eine taktische Ausrichtung, die der deutschen Abwehr nicht passt. Rivera weiß, wie er dem DHB-Team weh tun kann - er warf es 2013 im Viertelfinale raus. Und Katar gibt ihm das Spielermaterial, das er zum Arbeiten braucht.
• Eingebürgert, um zu gewinnen. Das ist die Devise für acht Profis, denen das Emirat einen katarischen Pass ausgestellt hat. Rafael Capote ist gebürtiger Kubaner, Bertrand Roine Franzose, Borja Vidal Fernandez Spanier und Eldar Memisevic Bosnier. Der torgefährlichste unter ihnen ist der Montenegriner Zarko Markovic. Der 28-Jährige kam einst hochgelobt in die DKB HBL, scheiterte aber bei Frisch Auf Göppingen und beim HSV Hamburg.
30 Länderspiele bestritt er für seine Heimat. Im Fußball darf man nur für ein einziges Land Pflichtspiele auf höchstem Niveau absolvieren. Doch im Handball genügt eine dreijährige Pause, um sich bei großen Turnieren das Trikot einer anderen Nation überzustreifen. Markovic entschied sich dazu - und ist unter Rivera besser denn je. Gegen Spanien traf der Rückraumshooter zehn Mal, auch im Achtelfinale war er mit acht Toren bester Schütze.
Es ist eine Qualität, die sich das Emirat viel kosten lässt. 100.000 Euro soll es angeblich pro Spieler für jeden Sieg geben. Ein finanziell verträglicher Wechsel sozusagen. Vier der Profis spielen außerhalb der Nationalmannschaft für den katarischen Klub al-Jaish. Allesamt stehen sie in der Bringschuld. Ob es einen größeren Ansporn als so viel Geld gibt?
• Dieses Duo wünscht sich jeder Coach. Ihm gehe es nicht um Geld, sondern die Chance, noch einmal Olympia zu spielen, meint Danijel Saric. Der Bosnier ist 37, spielt für den FC Barcelona. Gemeinsam mit dem früheren Keeper der Rhein-Neckar Löwen, Goran Stojanovic, bildet er das Torhüterduo der Kataris. "Mit Stojanovic und Saric verfügt Katar über das beste Torwartgespann aller 24 Teilnehmer", meint der ehemalige Weltmeister und Weltklasse-Keeper Henning Fritz.
• Wohl dem, der solche Spieler hat. Rivera spricht deshalb gerne von paradiesähnlichen Zuständen. "Nach Katar zu gehen, war die beste Entscheidung meines Lebens. Der größte Fehler wäre es gewesen, es nicht zu tun", sagte er einst. In der Vorbereitung konnte er sich aussuchen, wie viele Trainingslager er in Spanien und Frankreich absolvieren möchte. Und im kleinen Emirat hat er den Großteil seines Teams fast das ganze Jahr beisammen, trainiert es wie eine Klubmannschaft. Davon kann Bundestrainer Dagur Sigurdsson nur träumen.