Für das Gespräch mit SPORT1 trifft sich Enrico „Enno“ Maaßen an einem besonderen Ort: Nicht in St. Gallen, sondern in seiner zwei Stunden entfernten Wahlheimat Augsburg.
Eine ungewöhnliche Trainerreise
Ein Deutscher mischt die Schweiz auf
Am vergangenen Samstag gewann Maaßens Team zuhause gegen Grasshopper-Club Zürich mit 5:0 – ein weiterer deutlicher Beweis für die starke Form des FC St. Gallen unter seiner Leitung.
Am nächsten Tag steht der 41-Jährige bereits um 10.30 Uhr wieder auf dem Trainingsplatz. Seit Sommer 2024 ist er Chefcoach des FC St. Gallen – und mit dem Schweizer Traditionsklub spielt der ehemalige Trainer des FC Augsburg derzeit überraschend um die Meisterschaft mit. Ein Gespräch über Neuanfänge, Haltung und Perspektiven.
SPORT1: Herr Maaßen, erstmal herzlichen Glückwunsch – Sie haben den FC St. Gallen zuletzt zum ersten Auswärtssieg bei den Young Boys Bern seit 20 Jahren geführt! Wie haben Sie diesen Moment erlebt?
Enrico Maaßen: Das war wirklich ein schöner Moment. Wir haben im Vorfeld gespürt, wie viel es bedeutet, diesen Fluch endlich zu brechen. Für den Verein, für alle Mitarbeiter, aber auch für unsere Fans, die jahrelang vergeblich dorthin gefahren sind, war das ein besonderer Augenblick. Am nächsten Tag beim Bäcker oder auch zwei Tage später habe ich erst richtig gemerkt, was dieser Sieg den Menschen bedeutet hat. Das gibt uns Kraft und Energie für die nächsten Aufgaben.
„Herausfordernd, aber auch ein bewusstes Konzept“
SPORT1: Der Marktwert der Young Boys ist etwa dreimal so hoch wie der des FC St. Gallen. Was war das Geheimnis, diesen Gegner zu schlagen?
Maaßen: Wenn man gegen vermeintlich stärkere Teams spielt, geht es vor allem um Energie, um Verbundenheit und darum, den eigenen Plan mit Überzeugung umzusetzen. Natürlich kann so ein Spiel auch verloren gehen, aber wir hatten eine gute Herangehensweise, waren sehr giftig und als Team geschlossen – das war der Schlüssel.
SPORT1: Ihre Mannschaft gehört zu den jüngsten der Liga. Ist das eher Herausforderung oder bewusstes Konzept?
Maaßen: Beides. Es ist herausfordernd, aber auch ein bewusstes Konzept, weil wir finanziell nicht mit allen Klubs mithalten können. Deshalb müssen wir junge Spieler entwickeln – am besten aus der eigenen Jugend. Das gelingt uns in dieser Saison hervorragend. Letztes Jahr hatten wir noch sehr wenige Einsatzminuten von Schweizer U21-Spielern, jetzt sind wir mit großem Abstand auf Platz eins. Das war ein klares Ziel.
SPORT1: Wie würden Sie den Fußball beschreiben, den der FC St. Gallen unter Ihnen spielt?
Maaßen: Viel Power, Energie in beide Richtungen, Vertikalität mit dem Ball. Wir setzen auf Pressing, Gegenpressing und schnelles Umschalten. Wir haben ein hungriges Team – jung, ehrgeizig, mit ein paar erfahrenen Spielern als Stützen, auch aus dem Ausland. Das spürt man.
„Unsere Fans träumen schnell“
SPORT1: Nach so einem Sieg herrscht natürlich Euphorie. Wie schaffen Sie es, die Mannschaft trotzdem auf dem Boden zu halten?
Maaßen: Ich bin keiner, der bremst. Wenn es läuft, soll man das genießen. Trotzdem erinnere ich die Jungs immer wieder daran, was uns stark gemacht hat. Unsere Fans träumen schnell – und das ist auch ihr gutes Recht. Mir ist es wichtig, das bewusst zu steuern, aber ohne die Freude zu nehmen.
SPORT1: Sie legen großen Wert auf Analyse und Weiterentwicklung. Wie sieht bei Ihnen eine typische Trainingswoche aus?
Maaßen: Im Grunde ähnlich wie bei anderen Trainern: Videoanalysen vor und nach Spielen, Individual-Gespräche. Wir haben viele Spiele – 38 Ligaspiele plus Pokal – deshalb haben wir die Trainingszeit verkürzt, dafür aber sehr intensiv gestaltet. Es gibt viele Spielformen, viel Raum für Kleingruppen- und Individualtraining.
SPORT1: Es heißt, Sie sprechen erst zwei Tage nach einem Spiel über die Partie. Warum?
Maaßen: Das geht natürlich nur im Liga-Alltag ohne englische Wochen. Aber ich finde, man ist klarer und präziser, wenn die Emotionen raus sind – manchmal auch erst am dritten Tag nach dem Spiel. Die Spieler sind dann aufnahmefähiger, und auch wir Trainer treffen überlegte Entscheidungen bewusster, welche Szenen wir zeigen.
SPORT1: Sie haben einmal gesagt, dass Sie Marcelo Bielsa bewundern. Was fasziniert Sie an ihm?
Maaßen: Er war zu meiner Anfangszeit als Trainer sehr interessant. Mich beeindruckt, wie leidenschaftlich und intensiv seine Mannschaften spielen. Er ist akribisch, trainiert Positionen individuell und entwickelt Spieler enorm weiter. Das habe ich mir als Inspiration genommen.
„In der Kaderplanung gibt es keinen Zufall“
SPORT1: In St. Gallen gibt es einige deutsche Spieler, unter anderem Lukas Görtler, Lukas Daschner, Behar Neziri, Tom Gaal. War das Zufall oder ein Plan?
Maaßen: In der Kaderplanung gibt es keinen Zufall. Manche Spieler waren schon da, andere kamen neu. Wichtig war für uns, belastbare, gesunde Spieler zu holen, die intensiven Fußball gewohnt sind. Natürlich hilft es, wenn man sich versteht und sprachlich keine Barrieren hat, aber im Vordergrund steht der Teamgedanke. Wir sind eine sehr internationale Mannschaft. Es macht Spaß.
SPORT1: Hilft Ihnen so eine deutsche Achse auch beim Umsetzen Ihrer Ideen?
Maaßen: Ja, Kommunikation ist enorm wichtig. Unsere Achse besteht aus Spielern, die viel sprechen und Verantwortung übernehmen. Das war ein Lernpunkt aus dem vergangenen Jahr. Da sind wir inzwischen einen Schritt weiter.
SPORT1: Man kann von hier das Stadion des FCA sehen. Wie blicken Sie zurück auf Ihre Zeit dort – mit Stolz oder mit Enttäuschung?
Maaßen: Weder noch. Es war eine wertvolle Erfahrung. Wir haben damals in einer schwierigen Saison mit einem großen Umbruch den Klassenerhalt geschafft. Wir konnten viele junge Spieler entwickeln, die sich nachhaltig auch in anderen Vereinen durchgesetzt haben. Vielleicht konnte ich ein wenig helfen, dass beim FCA danach viel Geld generiert wurde – das war sicher eine Grundlage, warum die Mannschaft jetzt so dasteht.
BVB? „Wir hatten eine fantastische Zeit“
SPORT1: Sie haben während Ihrer Laufbahn schon viele Spieler entscheidend weiterentwickelt. In Dortmund haben Sie Ansgar Knauff zum Profi geformt. In Augsburg reiften Spieler wie Arne Engels (13 Mio. zu Celtic), Mergim Berisha (15 Mio. zu Hoffenheim) und Ermedin Demirovic (22 Mio. zum VfB), den Sie zum Kapitän machten, zu Millionenverkäufen. Wie gelingt Ihnen das?
Maaßen: Es geht immer um Vertrauen, besonders bei jungen Spielern. Man muss ihnen die Chance geben – so wie man sie mir damals gegeben hat. Für mich geht es nicht um jung oder alt, sondern um gut oder nicht gut. Und man braucht ein Umfeld, das Halt gibt. Ich will sie bestmöglich unterstützen. Ich habe noch zu vielen ehemaligen Spielern Kontakt, unter anderem zu Demirovic und Berisha.
SPORT1: Wer hat Sie damals in Dortmund gefördert?
Maaßen: Ingo Preuß war dafür verantwortlich, dass ich zum BVB gewechselt bin, auch Lars Ricken. Wir hatten eine fantastische Zeit, sind in die Dritte Liga aufgestiegen und haben viele Spieler auf das nächste Level gehoben.
SPORT1: Sie sollen als Kind BVB-Fan gewesen sein …
Maaßen: Das stimmt. Und als ich dann Trainer der zweiten Mannschaft beim BVB war, musste ich am Anfang schon schmunzeln, wenn ich zwischen Lars Ricken und Michael Zorc saß. Das war schon ein verrücktes Gefühl.
Kompany? „Er arbeitet nachhaltig, mit klarer Handschrift“
SPORT1: Sie haben den BVB sicher noch im Blick. Hätten Sie Niko Kovac das zugetraut?
Maaßen: Ich habe einen guten Draht zu Niko. Ich habe ihm das gewünscht, dass es so klappt. Er ist jemand, der konsequent seinen Weg geht. Niko passt absolut zum BVB – sie haben einen tollen Trainer.
SPORT1: Hat er sich verändert im Vergleich zu seiner Bayern-Zeit?
Maaßen: Jede Erfahrung lässt dich reifen. Er hat bestimmt Dinge gesammelt, die ihm helfen, und andere abgelegt.
SPORT1: Auch Vincent Kompany überrascht viele beim FC Bayern. Wie sehen Sie ihn?
Maaßen: Mir gefällt seine Art. Keine Nebengeräusche, volle Konzentration auf den Job. Er arbeitet nachhaltig, mit klarer Handschrift.
SPORT1: Was haben Sie in der Zeit beim FCA gelernt, was Sie jetzt anders machen?
Maaßen: Ich reflektiere mich ständig. Die Zeit beim FCA war sehr lehrreich. Es sind Kleinigkeiten, die dazu führen, dass ich heute auf einem anderen Level bin. Ich gehe jetzt beispielsweise anders mit einer Negativserie um.
SPORT1: Nämlich?
Maaßen: Es ist wichtig, bei sich zu bleiben. Du brauchst das richtige Umfeld, musst konsequent deinen Weg verfolgen und darfst nicht gleich alles über den Haufen werfen. Wichtig ist, Details zu verändern und die nötige Lockerheit zu behalten.
„Der Fußball schreit nach Typen – und Sandro ist so einer“
SPORT1: Ähnlich wie Kompany polarisieren auch Sie nicht. Wie sehr polarisiert Sandro Wagner beim FC Augsburg?
Maaßen: Ich werde niemals die Arbeit von Kollegen bewerten. Man hat beim FCA einen neuen Weg eingeschlagen. Ich bin gespannt, was über die Saison hinweg herauskommt.
SPORT1: Der Bayern-Spruch von Wagner war nicht hilfreich. Tut er Ihnen leid?
Maaßen: Der Fußball schreit nach Typen – und Sandro ist so einer. Er ist emotional und total fußballverrückt. Der Spruch fiel direkt nach dem Spiel, da muss man auch mal ein Auge zudrücken. Man sollte ihm Zeit geben, zu zeigen, was er kann.
SPORT1: Hat sich in St. Gallen alles so realisiert, wie Sie es sich vorgestellt haben?
Maaßen: Ja, das war eine bewusste Entscheidung. Nach Augsburg wollte ich reflektieren, bevor ich den nächsten Schritt mache. Auslandserfahrung, internationale Spiele – das war mein Wunsch. Jetzt habe ich etwas Neues in der Werkzeugkiste. Der Klub ist emotional, ambitioniert und fordert mich jeden Tag.
SPORT1: Was gehört menschlich noch in Ihre Werkzeugkiste?
Maaßen: Ich bin sehr detailversessen und akribisch, möchte erfolgreich sein und sehe immer das große Ganze – so ist es auch in St. Gallen.
Mit Toni Kroos zusammen trainiert
SPORT1: Wie würden Sie sich als Mensch beschreiben – abseits des Platzes?
Maaßen: Ich bin ein Familienmensch. Meine Familie gibt mir Kraft. Meine Frau ist etwas jünger, wir haben zwei Kinder – mein Sohn ist neun, meine Tochter vier – und ich genieße die Zeit mit ihnen. Das ist mein Ausgleich zum Job.
SPORT1: Sie haben ursprünglich als Sport- und Fitnesskaufmann gearbeitet. Wie hat Sie das geprägt?
Maaßen: Sehr. Ich bin ausgebildeter Sport- und Fitnesskaufmann, Sporttherapeut, habe ein Fitnessstudio geleitet. Diese Zeit hat mir Struktur und Sicherheit gegeben. Nebenher habe ich Fußball gespielt, erst später kam der Weg als Trainer – eher zufällig nach einer Verletzung.
SPORT1: Sie wollten auch einmal einen Kindergarten eröffnen. Wie kam das?
Maaßen: Ich habe als Spieler parallel beim SC Verl eine Jugendmannschaft trainiert. Da kam mir die Idee, einen Kindergarten mit Bewegungs- und Sportangebot zu eröffnen. Ich habe Freude an der Arbeit mit jungen Menschen. Als ich wusste, dass ich Vater werde, habe ich mich anders entschieden – der Bereich Fitness und Sport hat mich dann stärker interessiert.
SPORT1: Sie haben einmal den jungen Toni Kroos bei Hansa Rostock erlebt. War da schon erkennbar, dass er ein Weltklassespieler wird?
Maaßen: Ja, er war schon damals deutlich besser als alle anderen – technisch und spielerisch herausragend. Dass er mal eine solche Karriere macht, konnte man natürlich nicht voraussehen, aber das Talent war klar zu erkennen. Zumindest war es deutlich größer als bei mir (lacht).
„Natürlich ist die Bundesliga für jeden Trainer ein Ziel“
SPORT1: Viele sagen, Sie laufen etwas unter dem Radar. Wie sehen Sie sich selbst?
Maaßen: Ich möchte mich gar nicht offensiv zeigen und bin keiner, der sich in den Vordergrund drängt. Ich habe jeden Schritt bewusst gewählt, will mir Zeit lassen. Ich bin kein Typ für die großen Sprüche, sondern will mich auf die Arbeit fokussieren. Die Familie ist mein Ausgleich.
SPORT1: Sie möchten sicher irgendwann in die Bundesliga zurückkehren. Gibt es da den richtigen Moment?
Maaßen: Ich plane das nicht konkret. Ich bin glücklich in St. Gallen, will hier alles geben. Natürlich ist die Bundesliga für jeden Trainer immer ein Ziel, aber ich denke nicht in Zukunftsszenarien. Ich lebe im Hier und Jetzt.
SPORT1: Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?
Maaßen: Gesund und erfolgreich an der Seitenlinie – das wäre mein Wunsch.
SPORT1: Und was wünschen Sie Sandro Wagner?
Maaßen: Nur das Beste. Ich verfolge weiter den FC Augsburg. Man soll ihn in Ruhe arbeiten lassen.