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Olympia 2021: Nils Schumann über deutsche Bilanz in Tokio

Schumann: Leistungssport nicht sexy

Team Deutschland erreicht bei Olympia in Tokio das schlechteste Ergebnis seit der Wiedervereinigung. Auch viele Leichtathleten straucheln. 800-Meter-Olympiasieger Nils Schumann legt bei SPORT1 den Finger in die Wunde und sagt, was sich ändern muss.
Die neuen, technologisch extrem ausgefeilten Wunder-Schuhe bei Olympia sorgen für Diskussionen. Ein IOC-Mitglied verwendet den Begriff Doping, da die Schuhe offenbar eine höhere Leistungsfähigkeit gewähren.
Martin Hoffmann, Manuel Habermeier
Team Deutschland erreicht bei Olympia in Tokio das schlechteste Ergebnis seit der Wiedervereinigung. Auch viele Leichtathleten straucheln. 800-Meter-Olympiasieger Nils Schumann legt bei SPORT1 den Finger in die Wunde und sagt, was sich ändern muss.

Die deutsche Bilanz bei Olympia in Tokio fällt bescheiden aus. Platz 9 im Medaillenspiegel, es war die schlechteste Ausbeute seit der Wiedervereinigung.

Auch die Leichtathleten können die Hoffnungen trotz der Goldmedaille von Malaika Mihambo mit insgesamt nur dreimal Edelmetall weitgehend nicht erfüllen. Vor allem das Drama um Topfavorit Johannes Vetter im Finale der Speerwerfer war ein herber Rückschlag.

“Medaillenmäßig haben wir das Ergebnis von Rio erreicht”, stellte Chefbundestrainerin Annett Stein fest, konnte die Enttäuschung aber nicht verbergen: “Wenn wir das auf Grundlage der Chancen bewerten, die wir hatten, können wir mit diesem Ergebnis nicht zufrieden sein.”

Ein Umstand, der auch Nils Schumann nicht verborgen geblieben ist. Der Olympiasieger von Sydney 2000 über 800 Meter legt im SPORT1-Interview den Finger in die Wunde und sagt, was sich ändern muss.

SPORT1: Herr Schumann, wie bewerten Sie die deutsche Olympia-Bilanz, speziell bei der Leichtathletik?

Nils Schumann: Von außen - selbst für einen ehemaligen Nationalmannschaftsstarter - ist das schwierig zu beurteilen. Ich bin bei den Teamsitzungen nicht dabei und kenne auch nicht die individuelle Vorbereitung. Grundsätzlich ist es in der Leichtathletik mit der Vielzahl der Athleten immer schwierig, Vorhersagen zu treffen. Es gibt immer wieder Überraschungen und Enttäuschungen.

Grundlegend gibt es einige herausragende Athleten und Medaillengewinner - zu nennen wären da Malaika Mihambo im Weitsprung oder Kristin Pudenz im Diskuswerfen. Aber es gab auch überraschende Medaillen wie von Jonathan Hilbert im Gehen. Das sind natürlich Überraschungen, die toll und wichtig sind und die braucht die Leichtathletik. Aber es ist schade, dass nicht mehr Athleten die Fähigkeiten haben, in die Medaillenentscheidungen einzugreifen. Das würden sich natürlich die Athleten, aber auch die Trainer und Zuschauer wünschen. Aber die Trauben hängen in der Leichtathletik auch hoch.

SPORT1: Wen haben Sie bemitleidet?

Schumann: Gerade Johannes Vetter tat mir leid, dass die Bedingungen es nicht zugelassen haben, dass er seine Topleistung abrufen konnte. Es war auch für einen Nicht-Werfer schon überraschend, dass ein Werfer, der normalerweise konstant über die 90 Meter wirft, mit 82 Meter nur Neunter wird. Das war natürlich eine Enttäuschung - für ihn am meisten. Aber da schaut man auch wieder vorwärts. Wenn die Bedingungen - in dem Fall die Wurfanlage - andere sind, dann wird Johannes Vetter auch schnell wieder Top-Würfe machen.

Was ich mir allerdings als Läufer wünsche: Wir hatten mit Gesa Krause und Konstanze Klosterhalfen einige starke Läufer am Start. Die haben vielleicht sogar mit einer Medaille geliebäugelt. Aber die Zeiten waren einfach exorbitant. Da muss man schauen, dass von der Normerfüllung zum Finalkampf noch ein großer Schritt ist. Ich glaube, die meisten sind ganz zufrieden. Aber ich hätte mir auch einen Starter über 800 Meter der Männer gewünscht. Grundsätzlich hoffe ich, dass im Mittelstreckenbereich der Männer wieder ein paar mehr deutsche Athleten bei Olympia dabei sind und nicht gleich im Vorlauf ausscheiden.

Nils Schumann: Wenige heiße Eisen im Feuer

SPORT1: Wie bewerten Sie persönlich das deutsche Abschneiden und was machen andere Länder, mit denen man sich vergleichen könnte wie Italien, die Niederlande oder Polen besser?

Schumann: Die Ergebnisse bei Olympia sind immer auch ein Spiegelbild dessen, was in den Jahren zuvor in den Sport finanziell investiert wird. Aber es ist auch ein Spiegelbild dessen, welchen Stellenwert der Leistungssport in der Gesellschaft hat. Bereits als ich noch aktiv als Läufer am Start war, habe ich schon gesagt, dass sich die Leichtathletik in einem Abwärtstrend befindet. Der hat sich fortgesetzt.

Ich habe selbst zwei Söhne, die beide talentiert sind. Ich weiß aber nicht, ob ich es ihnen raten würde, eine beruflich erfolgreiche Zukunft zu riskieren, um in der Leichtathletik Leistungssportler zu werden. Das bedeutet immer auch eine Abhängigkeit von Vereinen oder Sporthilfen. Man muss ganz offen sagen, dass es momentan nicht besonders sexy ist, in den olympischen Kernsportarten Leistungssportler zu sein.

Das Gesamtergebnis ist bis auf wenige Ausnahmen nicht besonders prickelnd. Was mir besonders leid tut: Anscheinend haben wir in den athletischen Grunddisziplinen relativ wenige heiße Eisen im Feuer.

“Bei uns ist das so eine Kleinstaaterei”

SPORT1: Was muss sich ändern?

Schumann: Wir waren damals sehr viel in Kenia unterwegs. Da will ein ganzes Volk Läufer sein. Da herrscht ein ganz anderer Druck in jeder Trainingsgruppe mit 50, 60 Athleten. Wir bringen wahrscheinlich in ganz Deutschland nicht so viele Topläufer zusammen, wie da in einer Trainingsgruppe sind.

Aber die Motivation können wir in Deutschland schlecht ändern. Bei uns geht es mehr darum, wie wir unsere Altersvorsorge gestalten können und welchen Stellenwert die berufliche Ausbildung hat. Das sind alles verständliche Gründe, die ich als junger Athlet auch hatte. Aber bei mir war klar: Ich wollte unbedingt zu Olympia und Olympiasieger werden. Da war mir das egal, ob ich eine Banklehre mache oder was anderes. Das hat sich alles untergeordnet. Diese grundsätzliche Bereitschaft, alles dafür zu geben, ist sicher ein gesellschaftliches Problem, das nicht so leicht zu ändern ist.

Was man aber ändern könnte: professionelle Strukturen schaffen. Dass wir das können, ist zweifelsfrei. Wir haben gute Trainingsmöglichkeiten und gute Trainer. Wir haben tolle diagnostische Mittel. Wir müssen aber eine Zukunft in Aussicht stellen, die für die Athleten reizvoll ist. Es geht auch darum, ob sich eine Karriere als Leistungssportler lohnt. Wenn man sagt, dass es in der Leichtathletik ein oder zwei Handvoll Athleten gibt, die damit auch Geld verdienen, ist das wahrscheinlich schon hoch gegriffen.

In Spanien zum Beispiel werden Laufstützpunkte geschaffen, die eine feste Gehaltsstruktur haben. Die Kader bekommen mit einem monatlichen Einkommen eine Sicherheit, den Sport betreiben zu können. Da stellen sich dann auch schnell Erfolge ein.

Bei uns ist das eher so eine Kleinstaaterei. Jeder Verein versucht, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Oft gelingt das aber nur sehr halbherzig.

Schumann über Doping und Wunderschuh

SPORT1: Es gab überraschende Leistungen, bei denen auch der Verdacht des Dopings mitläuft. Fürchten Sie, dass bei einigen Sportlern noch etwas nachkommt?

Schumann: Das kann ich nicht beantworten. Man hört immer viele Unkenrufe, wenn Topleistungen kommen. Die werden sofort hinterfragt. Daran möchte ich mich aber ungern beteiligen.

Sicher hat das Thema Dopingkontrolle im Corona-Jahr nicht denselben Stellenwert gehabt wie in anderen Jahren. Wie überall in der Gesellschaft wird es auch in der Leichtathletik schwarze Schafe geben. Aber ich gehe nicht davon aus, dass diese Spiele unsauberer waren als andere Spiele zuvor. Ich sage vielleicht auch ein bisschen provokant: Ich habe die Reportage über das Oregon Project gesehen und da war der Aufschrei groß, mit welchen Methoden dort gearbeitet wird. Aber es ist Leitungssport, da geht es auch um viel Geld. Da wird dann auch bis an die Grenzen des Erlaubten versucht, die Leistung zu optimieren. Ob Trainer, Athleten oder Nationen diese Grenzen überschritten haben, kann ich nicht einschätzen.

Ich hoffe nicht. Ich finde es eher zum Kotzen, wenn man die ganze Zeit wartet, wie viele Medaillen in den nächsten Jahren aufgrund neuer Testmethoden zurückgegeben werden müssen. Das ist aus meiner Sicht der Untergang einer ganzen Sportart, wenn der Sieger nicht mehr als Sieger wahrgenommen wird. Vielleicht bin ich da blauäugig, aber ich habe immer noch die Hoffnung, dass das saubere Spiele waren.

SPORT1: Und sehen Sie das auch in Bezug auf die neuen Schuhe?

Schumann: Solange es da keine klaren Reglementierungen gibt, wird versucht, technisch die Leistungssteigerung bis an die Grenze des Machbaren zu treiben. Wenn ein Schuh einen minimalen Bounce-Effekt hat oder die Bahn neu verlegt ist, dann ist das eben so. Ich finde es nur schade, wenn nicht alle die gleichen Chancen haben. Wenn jemand einen anderen Ausrüster hat und daher keine Medaille erringen könnte, wäre das extrem schade. Da muss man überlegen, ob man das reglementieren muss, wie das in anderen Sportarten auch der Fall ist.

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