Am ungläubigen Blick von Karsten Warholm, der nach seinem Finallauf auf die Anzeigetafel starrte, konnte man seine Sensationszeit schon herauslesen.
Olympia 2021: Verbot für "Wunderschuhe"? Das sagen deutsche Athleten
Sollen Hightech-Schuhe verboten werden?
Fast schon aberwitzige 45,94 Sekunden benötigte der Norweger für die 400 Meter Hürden - eine Zeit, bei der sich die meisten deutschen Viertelmeiler auch ohne Hindernisse schwertun.
Warholm verbesserte in Tokio seinen eigenen, frisch aufgestellten Weltrekord um 76 Hundertstelsekunden und drang in eine Dimension vor, die eigentlich unvorstellbar schien.
Dass Sydney McLaughlin zwei Tage später bei den Frauen ein ähnliches Husarenstück gelang und die US-Amerikanerin den Weltrekord über die gleiche Strecke um 0,44 Hundertstel Sekunden auf 51,46 Sekunden drückte, steigerte das Erstaunen in der Leichtathletik-Szene in helle Aufruhr.
Wie ist das möglich? Neben der ewigen, von der Leichtathletik selbst verschuldeten Doping-Frage - an diesem Samstag neu ins Zentrum gerückt durch die zweifelhaften Kontakte von 100-Meter-Olympiasieger Lamont Marcell Jacobs - steht noch ein anderer Aspekt im Fokus: der “Wunderschuh” als mechanisches Doping - und die daraus folgende Diskussion um Chancengleichheit.
Wunderschuh als mechanisches Doping?
Dabei ist zu berücksichtigen: Beim technologischen Fortschritt scheint es zwischen den verschiedenen Schuhmarken keine gravierenden Unterschiede mehr zu geben. Während Warholm mit Puma-Schuhen über die Tartanbahn flog, hatte der Zweite Rai Benjamin (USA), der den alten Weltrekord ebenfalls pulverisierte, einen Nike-Schuh an den Füßen. McLaughlin lief ihren Fabel-Weltrekord in einem Modell von New Balance.
Diese Chancengleichheit herrscht derzeit allerdings nur im Sprintbereich von 100 bis 400 Meter. Auf den Mittel- und Langstrecken sind bei den Spielen von Tokio einige Marken der neuen Schuh-Generation noch nicht zugelassen.
So hatte der deutsche 5000-Meter-Meister Mohamed Mohumed die Spikes-Revolution nicht unter seinen Puma-Schuhen, da sie die Herzogenauracher Traditionsfirma nicht mehr rechtzeitig für die Spiele in Tokio auf den Markt gebracht hat.
Mohumed verpasste in Tokio das Finale über 5000 Meter klar - wegen der Schuhe?
Mohumed: “Finde nicht, dass man sie abschaffen sollte”
“Die Schuhe sind natürlich eine Bereicherung für diejenigen Athleten, die sie haben, da der Nutzen wissenschaftlich bewiesen ist”, sagt er bei SPORT1: “Ich finde aber nicht, dass man sie abschaffen sollte, weil die anderen Sportartikelhersteller in wenigen Monaten nachziehen werden.”
“Ich selbst laufe in ganz normalen Spikes und konnte mich für Olympia qualifizieren. Viele andere Läufer haben auch schon bewiesen, dass es auch ohne geht”, sagt er.
Ein Verbot der neuen Technologie, wie sie zuletzt Professor Yannis Pitsiladis, Mitglied der medizinischen und wissenschaftlichen Kommission beim IOC, anregte, kommt für Mohumed nicht in Frage.
“Klar sind diese neuen Spikes besser als die herkömmlichen, das ist unbestritten”, sagt auch Robert Farken bei SPORT1. Der Leipziger, der über 1500 Meter das Halbfinale erreichte, profitierte bei seinem Nike-Schuh von der neuen Technologie: “Sie vermitteln ein anderes Laufgefühl.”
Andererseits verweist Farken auf den technologischen Fortschritt, den es längst nicht nur in der Leichtathletik gibt. “Ich würde sie nicht verbieten, weil in anderen Sportarten auch am Material gearbeitet wird. Und wir sollen mehr oder weniger barfuß laufen?”, fragt er ironisch.
Doch nach welchen Regeln gibt der Weltverband einen Schuh überhaupt frei?
Vertragliche Zwänge verhindern freie Schuhwahl
Eine Voraussetzung ist, dass er für eine gewisse Zeit im freien Handel zu kaufen sein muss. Sprich: Jeder Läufer muss Zugang zum für ihn besten Schuh haben - zumindest theoretisch.
In der Praxis sieht dies jedoch teilweise anders aus. Weil die Kosten für derlei Hightech-Schuhwerk in die hunderte Euro gehen, ist nicht immer garantiert, dass auch Athleten aus ärmeren Ländern sich dieses leisten können.
Aber auch andere Läufer, wie Mohumed, können nicht einfach auf ein anderes Modell zurückgreifen, wenn sie vertraglich an eine bestimmte Marke gebunden sind.
“Dass einzelne Sportler durch Ausrüstungsverträge nicht die Schuhe aller Marken nutzen können, ist vergleichbar mit anderen Ausdauersportarten wie dem Radsport”, sagt Thomas Dreißigacker, Bundesstützpunkttrainer in Leipzig.
Dreißigacker: Bewertung zu einseitig
Dabei ist das leidige Schuh-Thema keineswegs auf Großveranstaltungen beschränkt - selbst beim Nachwuchs wird penibel hingeschaut, dass die vorgeschriebenen Regeln eingehalten werden. So stehen bei Jugendwettkämpfen in Deutschland Kampfrichter mit einer Liste auf der Tartanbahn und kontrollieren die Schuhe.
Und dennoch: Bei allem Materialfortschritt ist am Ende die Leistung der Athleten entscheidend, findet Dreißigacker: “Ich sehe zurzeit oftmals, dass die Bewertung von sehr guten Leistungen etwas einseitig dem technologischen Fortschritt zugeschrieben wird und nicht alle Faktoren der Leistungsstruktur betrachtet werden.”
Eine Studie des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig kommt zum Schluss, dass sich die Zeiten im Langstreckenlauf bei Frauen und Männern um etwa ein bis zwei Prozent verbesserten, seit der Carbon-Schuhe im Jahr 2017 eingeführt wurde. Dies galt jedoch für den Marathonbereich.
“Wie viel es ausmacht, ist schwer zu sagen”, bemerkt Farken. “Das hängt auch vom Fußaufsatz ab - wie sehr du also diese Vorspannung des Schuhs nutzen kannst. Am Ende des Tages ist es ziemlich viel Kopfsache und es zählt, was in den Beinen steckt.”