Nils van der Poel hat seine brisanten Worte, die für weltweites Aufsehen sorgten, nicht aus der Emotion heraus gesprochen - sondern mit bewusstem Kalkül.
Olympia-Superstar Nils van der Poel - so kontrovers ist Schwedens Eisschnelllauf-Star
Der ungewöhnlichste Olympia-Superstar
„Ich weiß nicht, ob es schlau gewesen wäre, vorher China zu kritisieren, wenn ich da erst noch hin muss“, gab der Eisschnelllauf-Star aus Schweden zu. Nachdem er seine beiden Goldmedaillen über 5000 und 10.000 Meter hatte, schlug er dann umso heftiger zu. (News: Alle aktuellen Infos zu Olympia 2022)
„Die Olympischen Spiele sind großartig, sie sind ein fantastisches Sportereignis, weil sie die Welt vereinen und weil die Nationen sich treffen“, holte er im Gespräch mit Sportbladet aus: „Aber das tat auch Hitler, bevor er Polen überfiel, und auch Russland, bevor es in die Ukraine einmarschierte.“ Es sei „unverantwortlich“, die Spiele an so ein Land zu vergeben.
Internationale Schlagzeilen waren die Folge seiner Einlassungen, der womöglich streitbarste und ungewöhnlichste Athlet der Spiele hatte die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Einmal mehr.
Nils van der Poel wählt nicht nur bei China heftige Worte
Großen Wirbel hatte es zuvor auch schon gegeben um seine Kritik am niederländischen Verband und dessen offene Bemühungen, bei Olympia eine für ihre Athletinnen und Athleten passende Eishärte zu bekommen.
Die Vertreter der Niederlande - der Heimat von van der Poels Großvater - zeigte sich geschockt über die „sehr starken Worte“.
China-Kritik von van der Poel sorgt für Aufsehen
Als exzentrisch in ihrer Heftigkeit wurde nun auch van der Poels China-Kritik empfunden, wenngleich ihr inhaltlicher Kern schwer von der Hand zu weisen ist.
So wie die Propaganda-Spiele in Berlin 1936 die Weltöffentlichkeit vom Gräuel-Charakter der Nazis ablenkten, ist Olympia auch nun willkommene PR für ein autoritäres Regime, das Menschenrechtsverletzungen wie die systematische Unterdrückung der uigurischen Minderheit in den Hintergrund rückt.
Eine auch von Deutschland unterzeichnete UN-Resolution brandmarkte erst kürzlich „allgemeine und systematische Menschenrechtsverletzungen, Folter, Zwangssterilisation, sexuelle Gewalt“.
Dass man sich trotzdem mit Recht an jedem Vergleich mit dem historisch einzigartigen, industriellen Völkermord der Nazis reiben kann, wird van der Poel wissen. (SERVICE: Der Medaillenspiegel)
Aber der 25-Jährige ist noch nie aufgefallen als jemand, der Angst davor hat, mit ungewöhnlichen Worten anzuecken - oder mit ungewöhnlichen Taten.
Van der Poel bereitete sich mit extremen Mitteln vor
Auch die Art und Weise, wie van der Poel sich auf Olympia vorbereitet hatte, war keine alltägliche: 20 Ultra-Marathons, 1.000 Fallschirmsprünge, ein Jahr beim schwedischen Militär, Snowboarden, Skibergsteigen - all das soll zu seinem Vorbereitungsprogramm gehört haben.
Van der Poel hat sich im Lauf seiner jungen Karriere schon zweimal für ein bzw. zwei Jahre vom Eis verabschiedet, um Zeit für diese Aktivitäten zu gewinnen und aus gewohnten Bahnen auszubrechen.
Der Mann aus der westschwedischen Industriestadt Trollhättan fühlte sich angetrieben vom Wunsch, aus sich wiederholenden Abläufen auszubrechen, um die Lust an seiner Berufung nicht zu verlieren.
Oder wie es van der Poel in seinen eigenen Worten ausdrückte: Das Training für seinen Sport sei dermaßen eintönig, dass es ihn „ankacke!“
Ungewöhnliches 62-Seiten-Dokument veröffentlicht
Eine weitere Abweichung von den üblichen Normen: Van der Poel hat ein 62-seitiges Dokument öffentlich gemacht, in dem er jedes Training seit Mai 2019 vermerkte.
Was dabei auffiel: Krafttraining, spezielles Essen, Stretching kam in dem Plan kaum vor. Van der Poel gönnte sich auch regelmäßig freie Wochenenden, um die Balance aus Schinderei und Lockerheit zu wahren.
Dass er mit seinem Trainingsplan auch mehr oder weniger eine Anleitung, wie man ihn schlagen könne, mit der Welt teilte: Kein Problem für van der Poel - im Gegenteil.
Er will starke Gegner, um selbst stark sein zu können
Van der Poel sieht es erklärtermaßen als eine Verpflichtung, sein Wissen auch anderen Sportlern zu überlassen und damit deren Niveau zu steigern.
Wie ernst es ihm damit ist, bewies er auch vor seinem Olympiasieg über 5.000 Meter. Im Innenraum feuerte er seine Widersacher derart frenetisch an, dass er laut Regelwerk sogar hätte disqualifiziert werden können.
Dazu bedankte er sich nach seinem zweiten Gold in Peking explizit bei seinen Kontrahenten - nur weil sie ihn maximal gefordert hätten, hätte er auch das Maximum aus sich herausholen können.
Man sieht: Van der Poel denkt anders als die meisten anderen Sportlern, zeigt auch schon in jungem Alter viel Bewusstsein für sein Vermächtnis, für Endlichkeit.
Van der Poels Mutter starb kurz nach WM 2021 an Krebs
Mit ebendiesem Thema wurde van der Poel im vergangenen Jahr - das aus sportlicher Sicht mit zwei WM-Titeln ein schönes hätte sein können - in aller Härte konfrontiert: Seine Mutter Agneta, eine Kirchendiakonin, erkrankte kurz nach seinen Erfolgen an Krebs und starb nach wenigen Wochen.
„Ich werde nie mehr derselbe sein“, erklärte van der Poel - bei privaten Theman meist verschlossen - nach dem Schicksalsschlag: „Meine Mutter gab mir alles, was ich brauchte, um für mich zu sorgen. Aber sie hat mir nicht alles gegeben, was ich wollte. Ich hatte mir weitere 24 Jahre mit ihr gewünscht.“
Sportlich hat ihn der Schicksalsschlag nicht aus der Bahn geworfen. Sein Doppel-Gold zeigt, dass Nils van der Poel weiß, was er tut - auch wenn er sich damit außerhalb der üblichen Bahnen bewegt.