Da war er wieder - der typische Emilien Jacquelin, den Biathlon-Fans lieben oder verachten.
Biathlon: Emilien Jacquelin aus Frankreich - ein Bad Boy wird zum Wintersport-Superstar
Der umstrittenste Biathlet der Welt
Kurz vor dem Überqueren der Ziellinie beim Massenstart in Le Grand Bornand verschränkte der Franzose lässig die Arme - und sein Blick drückte dabei jene Selbstüberzeugung aus, die auch schnell für Arroganz gehalten werden kann.
Wer die Karriere von Jacquelin verfolgt, weiß, dass der 26-Jährige Provokationen liebt und womöglich auch deshalb diese Pose auspackte.
Jacquelin zieht an - und bremst wieder ab
Bereits während des Rennens hatte der dreimalige Biathlon-Weltmeister (zweimal in der Verfolgung, einmal in der Staffel) seine Spielchen mit der Konkurrenz getrieben.
Immer wieder zog Jacquelin auf der ersten Hälfte der Runde an, als wäre der letzte Kilometer zu laufen. Dabei ließ er starke Läufer wie Landsmann Quentin Fillon Maillet oder Johannes Thingnes Boe - wenngleich der Norweger noch nicht seine übliche Überform hat - verdutzt zurück.
Auf der zweiten Hälfte der Runde wurde Jacquelin dann deutlich langsamer und ließ sich teilweise sogar fast einholen - nur um mit seinem schnellen Schießen sofort alle wieder unter Druck zu setzen. Wenn es wie in dem Fall aufgeht, genial – wenn nicht, ist für den Spott gesorgt.
„Die taktischen Spielchen, die er mit seinen Gegnern spielt – da merkt man auch seinen Hintergrund als Radsportler. Er ist ein cleveres Kerlchen“, sagte Ex-Biathlet Michael Rösch bereits Anfang des Jahres im SPORT1-Interview über Jacquelin.
Emilien Jacquelin erinnert ein wenig an Fourcade
Seine Zwischensprints erinnern ein wenig an Frankreichs zurückgetretene Biathlon-Ikone Martin Fourcade. Dieser war auf der Strecke bekannt für ähnlich umstrittene Aktionen, doch er untermauerte sie häufig mit seiner Brillanz.
Bei Jacquelin passten die Provokationen bis zu dieser Saison dagegen nur selten zur Leistung auf dem Schnee - und brachten ihm sogar regelmäßig Ärger mit seinen Kontrahenten ein.
So zum Beispiel nach dem Massenstart in Oberhof im Januar 2021, als unter anderem Erik Lesser nicht gut auf ihn zu sprechen war, nachdem Jacquelin zuvor wieder den starken Mann markiert hatte.
„Er ist ein Typ, der sportlich extrem viel drauf hat. Aber manchmal kommt menschlich so ein bisschen der Bad Boy raus. Da muss er sich noch ein bisschen zügeln“, sagte der Deutsche über Jacquelin.
Lesser: „Hat den vollen Zirkus und Clown gemacht“
Im Rennen war Jacquelin in Führung liegend gestürzt, wodurch die Verfolgergruppe um Lesser aufschließen konnte. Da er mehr Schwung hatte, wollte der Schweizer Benjamin Weger außen herum überholen.
Dabei kam es jedoch zur Berührung mit den Skiern von Jacquelin, woraufhin dieser ihn zornig anschrie. Es kam zur Hakelei, bei der es zumindest den Anschein hatte, dass der Franzose bewusst auf die Skier des Konkurrenten stieg.
„Er hat den vollen Zirkus und den Clown gemacht. Dann habe ich ihm mal ganz kurz gesagt, dass das hier ein bisschen fehl am Platz ist. Das kann man unter Männern schon mal sagen“, erklärte Lesser seinen Ruf nach Fair Play im Rennen.
Alle müssen warten: Jacquelin in Tränen
Nur einen Monat später stand Jacquelin erneut im Mittelpunkt - und dieses Mal war sein Verhalten unzweifelhaft unsportlich.
Nachdem er nur wenige Tage zuvor zum zweiten Mal WM-Gold in der Verfolgung gewonnen hatte, unterliefen ihm im Massenstart beim 2. Schießen fünf Fehler. Die anderen drei Einlagen beendete er fehlerfrei, doch da er ohne Medaillenchancen war, hatte er offenbar keine Lust mehr.
Und so verkam die letzte Runde zur Farce. Immer wieder machte er Halt und diskutierte mit französischen Betreuern oder ließ sich umarmen. In Zeitlupe - für seine Verhältnisse - lief er die letzte Runde und kam mit über sieben Minuten Rückstand ins Ziel.
Man konnte dabei durchaus Mitleid mit Jacquelin bekommen, der Tränen in den Augen hatte und dem die Situation sichtbar nahe gegangen war – doch es gab schon deutlich tragischer verpasste Medaillen und keiner hatte sich bisher so verhalten.
Die letzte Runde wurde zur One-Man-Show, überschattete die Medaillenübergabe und verzögerte den weiteren Ablauf. Auch der Ex-Biathlet und heutige TV-Experte Sven Fischer wurde im ZDF deutlich: „Das ist Ehrensache und hat mit Respekt zu tun.“
Rösch: „Körpersprache sagt: Ich bin der Chef“
Genau jenen Respekt lässt der Pendler zwischen Genie und Wahnsinn zumindest auf der Strecke immer wieder einmal vermissen - doch gleichzeitig ist dieses Bad-Boy-Verhalten auch das, was ihn auszeichnet.
Rösch sagte dazu: „Seine Körpersprache sagt dir: Ich bin der Chef! Das kommt natürlich nicht bei jedem gut an, je nach persönlicher Wahrnehmung. Aber man muss ihm lassen, dass er ein echt starker Sportler ist.“
Doch solange Jacquelin, der 2014 bei der Junioren-WM erstmals für Aufsehen sorgte, seine Emotionen nicht kontrollieren kann, ist er auch für seine eigenen Spielchen anfällig.
Seine Zwischensprints gefolgt von aberwitzig schnellen Schießeinlagen führten nicht selten zu Fehler-Festivals. Bei der Staffel in der vergangenen Saison in Nove Mesto schoss er zum Beispiel vier Strafrunden - und das trotz dreier Nachlader.
Schwerer Sturz in der Biathlon-Vorbereitung
Vor dieser Saison ließ sich das riesige Biathlon-Talent oft auch mental von solchen Rückschlagen negativ beeinflussen – und es machte sich Unsicherheit breit, ob er dies je in den Griff bekommt.
Dass es ausgerechnet in dieser Olympia-Saison klappen sollte, galt im Sommer als fast unmöglich, denn Jacquelins Vorbereitung verlief denkbar ungünstig. Beim Radtraining in Norwegen krachte er in eine Betonmauer und zog sich dabei mehrere Brüche des Handgelenks zu.
„Ich war mit dem Rad auf einer dieser langen Straßen unterwegs, wie man sie in Norwegen häufig findet. Zu meiner rechten war eine Mauer. Ich habe mich auf mein Laufrad konzentriert und die Barriere nicht bemerkt. Dann bin ich hineingekracht. Mir war sofort klar, dass es meinen Arm arg erwischt hatte – mein Handgelenk war nicht dort, wo es sein sollte“, sagte Jacquelin der IBU.
Radfahren war danach erst einmal einige Zeit unmöglich und selbst beim Lauftraining musste er den Arm in eine spezielle Stellung bringen, damit es zumindest 30 Minuten lang zu ertragen war. Auch gut einen Monat später konnte er immer noch kein Schießtraining machen.
Jacquelin grübelt weniger über Schießen
Doch Jacquelin sagte bereits damals: „In der langen Vorbereitung stellen wir so viele Fragen zum Schießen. Man muss so vieles bedenken. Wenn man einige Zeit kein Gewehr in der Hand hatte, kehrt man zu den Basics zurück - man will einfach nur die schwarzen Scheiben auf Weiß stellen.“
Gerade ihm half es offensichtlich, dass er in der Vorbereitung nicht zu viel über sein Schießen grübeln und sich stattdessen voll auf sein Laufen fokussieren konnte. Immerhin traf er bereits in der vergangenen Saison 87 Prozent der Scheiben - trotz seiner Aussetzer.
In dieser Saison glänzt er vor allem im liegenden Anschlag mit einer Trefferquote von 92 Prozent. Im Stehendschießen präsentiert er sich dagegen noch wechselhaft. Die Quote von 75 Prozent zeigt, dass er dort immer wieder ein Top-Resultat verballert.
Dafür hat er im Laufen noch eine Schippe draufgelegt und ist in dieser Saison im Schnitt bisher der zweitschnellste Läufer hinter dem Schweden Sebastian Samuelsson - und seine Formkurve zeigte zuletzt sogar noch weiter nach oben.
Jacquelin hat Gelbes Trikot - folgt Olympia-Sieg?
Jacquelin führt deshalb inzwischen sogar die Gesamtwertung an. Berücksichtigt man seine schwierige Vorbereitung und die aktuellen Probleme beim Stehendschießen, wird schnell deutlich, was für ein Potenzial der Franzose hat.
Bereits vor der Saison hatte er angekündigt, nicht nur wieder bei seinem Heimrennen in Le Grand Bornand und dem Großereignis glänzen zu wollen: „In diesem Jahr möchte ich bei den anderen Wettkämpfen besser abschneiden und Olympiasieger werden.“
Aktuell deutet vieles darauf hin, dass es mit den Zielen für diese Saison klappen könnte - dann darf er sich auch weiter den einen oder anderen Bad-Boy-Moment erlauben.