Robert Lewandowskis Neunminutenrausch mit seinen fünf Treffern gegen Wolfsburg und Pierre-Emerick Aubameyangs Startrekord mit mindestens einem Tor in jedem Bundesligaspiel dürfte jeder Fußballfan mitbekommen haben. Doch auch sonst war die sechste Runde der Spieltag der Mittelstürmer: Darmstadts Sandro Wagner und Herthas Vedad Ibisevic mit ihren siegbringenden Doppelpacks gegen Bremen und Köln, Chicharito mit seinem ebenfalls entscheidendem Tordebüt für Leverkusen gegen Mainz - nur Aaron Johanssons Tor konnte die Bremer Niederlage in Darmstadt nicht verhindern.
Die Renaissance der Mittelstürmer
© SPORT1-Grafik: Gabriel Fehlandt
An 16 der insgesamt 28 Tore des sechsten Spieltags waren Mittelstürmer beteiligt. Daniel Ginczek bereitete zwei der drei Stuttgarter Treffer vor, dazu kommen die Vorlagen von Klaas-Jan Huntelaar beim 2:0 des FC Schalke gegen Frankfurt und Hoffenheims Eduardo Vargas zum 1:0 gegen Dortmund.
Nur beim 4:2 Mönchengladbachs gegen Augsburg hielten sich die Mittelstürmer zurück – aber auch, weil Andre Schubert bei seinem Debüt als Interimstrainer der Fohlen als einziger darauf verzichtete, einen Mittelstürmer aufzustellen. Im 4-4-2 spielten in Raffael und Lars Stindl eine hängende Spitze und ein gelernter Achter als halber Zehner und falscher Neuner im Offensivzentrum. Die beiden waren an drei der vier Gladbacher Toren beteiligt – Stindl traf zum 2:1, Raffael bereitete drei Tore vor.
"Gebt mir Mittelstürmer"
Doch ansonsten erlebt die Bundesliga gerade die Renaissance der Mittelstürmer.
In den letzten Jahren wurde oft vom schleichenden Tod des klassischen Neuners gesprochen. Die Taktikexperten erfanden Begriffe wie falsche oder auch fluide Neun, stürmende Zehner, inverse Forwards für Außenstürmer und, und, und. Im Weltmeisterkader von 2014 stand in Miroslav Klose nur ein klassischer Mittelstürmer. U21-Trainer Horst Hrubesch flehte schon vor sechs Jahren: "Gebt mir Mittelstürmer!" und erkannte in diesem Juni wieder: "Alle Kids wollen heute Özil und Götze sein, Mittelstürmer ist nicht mehr so attraktiv."
Vor allem Mittelfeldspieler ausgebildet
Tatsächlich wurden in Deutschland seit der Professionalisierung der Jugendarbeit infolge der katastrophalen Europameisterschaften 2000 und 2004 vor allem Weltklasse-Mittelfeldspieler ausgebildet. Technisch starke und vor allem polyvalente Spieler, die sich auf mehreren Positionen wohlfühlen sollen.
Eine Entwicklung, die den Fußball attraktiver gemacht hat und nicht mehr umkehrbar ist. Und doch scheinen die Diskussionen über falsche Neuner und den Tod des Mittelstürmers wie so oft zu dogmatisch geführt worden zu sein.
Falsche Neuner etwa sind mitnichten eine Erfindung der letzten Jahre - den italienischen Fußball prägen seit Jahrzehnten schon spielmachende Stürmer wie Roberto Baggio, Alessandro del Piero oder Francesco Totti, die jenseits der Alpen auch "fantasista" genannt werden, Barcelona hat schon weit vor Guardiola den totalen Fußball mit ständig rochierenden Spielern praktiziert.
Weder werden in Zukunft (außer vielleicht beim Mittelfeldfetischisten Guardiola) zehn Mittelfeldspieler auf dem Platz stehen, noch war der Mittelstürmer je wirklich tot. Die Trainer haben mittlerweile nur mehr Alternativen. Sie setzen situativ auf falsche Neuner, agieren aber in der Mehrzahl der Fälle unbeirrt weiter mit echten - die aber auch auf die Flügel ausweichen oder sich ins Mittelfeld zurückfallen lassen und insgesamt stärker eingebunden sind in alle Spielschemata.
Auch international wird auf echte Neuner gesetzt
Übrigens auch international: Barcelona gewann letzte Saison mit dem echten Mittelstürmer Luis Suarez die Champions League, bei Juventus sorgte bis zum Sommer Carlos Tevez und jetzt Paulo Dybala für Angst in den gegnerischen Strafräumen, die Trainer von Manchester United, Manchester City, PSG, Chelsea und Real Madrid würden freiwillig nie auf Wayne Rooney, Sergio Agüero, Zlatan Ibrahimovic, Diego Costa und Karim Benzema verzichten.
Alle auf ihre Art einzigartig, aber eben auch alle: echte Mittelstürmer.
Das Beispiel Mönchengladbach bestätigt nur den Trend. Hintergrund für Schuberts Verzicht auf einen echten Mittelstürmer: Josip Drmic scheint noch nicht in Gladbach angekommen zu sein, ihm fehlte bei seinen Einsätzen am Anfang der Saison die Bindung zu seinen Kollegen und zum Spiel. Auch weil Drmic von seiner Spielweise her ein wenig aus der Zeit gefallen scheint. Zwar antrittsschnell, recht trickreich und torgefährlich, aber mit (ausmerzbaren) Schwächen in der Technik und spieltaktischen Ausbildung.
Moderne Mittelstürmer, und das ist der eigentliche Grund für ihre Renaissance, sind heute mehr als reine Tormaschinen. Aussterben werden über kurz oder lang darum nur die Neuner, die sich darauf nicht einstellen und sich nicht weiterentwickeln können.
Lewandowski wurde unter Klopp Weltklasse
Robert Lewandowski wurde erst Weltklasse, als er unter Jürgen Klopp beim BVB zum mitspielenden Stürmer wurde und seine überragende Technik mehr in den Dienst der Mannschaft stellte.
Daniel Ginczek ist nicht nur wegen seiner Kaltblütigkeit beim Torschuss auf dem Sprung in die Nationalmannschaft. Sondern weil er ungemein robust und antrittsschnell ist, so im direkten Kampf mit dem Abwehrspieler den Ball behaupten kann und außerdem ein gutes Auge für die Mitspieler hat. Zudem fungiert Ginczek als erster Verteidiger des VfB, unterbindet, wie zuletzt in Hannover, auch mal mit einer beherzten Grätsche gegnerische Konter.
So facettenreich der Fußball, so vielseitig sind heute auch moderne Mittelstürmer. Milans Mario Balotelli etwa ist, wenn er will, ein begnadeter Freistoßschütze; Ibrahimovic' Athletik und Balance sind legendär; Agüero oder Juves Dybala sind gleichzeitig Dribbler und Torjäger. Ihre Körper haben nichts vom archetypischen David Michelangelos, ähneln eher den Messis und Götzes dieser Welt. Und doch sind sie: Echte erste Spitzen mit Spielmacherqualitäten; bei Luis Suarez passieren Ballannahme, Sprint und Torschuss scheinbat in einer einzigen fließenden Bewegung; Cristiano Ronaldo wäre ohne den uneigennützig mitspielenden und technisch starken Benzema weniger wertvoll; Aubameyang ist ständig in Bewegung und deckt mit seiner enormen Geschwindigkeit das gesamte Angriffsfeld ab; Diego Costa ist ein Stürmer, mit dem man "in den Krieg ziehen kann", der die ganze Mannschaft mitreißt.
Waren die Mittelstürmer früher (ähnlich wie Torhüter) Spezialisten, die recht unabhängig von ihren Kollegen agieren konnten, sind sie jetzt als Teil des Ganzen gefragt. Aus Torjägern sind echte Fußballspieler geworden.