Home>Fußball>

Selbst eingewechselt! Der dreiste Abgang eines Genies

Fußball>

Selbst eingewechselt! Der dreiste Abgang eines Genies

{}
{ "placement": "banner", "placementId": "banner" }
{ "placeholderType": "BANNER" }

Der Fußballgott wollte es so

Günter Netzer zählt zu den besten Fußballspielern der deutschen Geschichte. Bei seinem letzten Spiel für Borussia Mönchengladbach leistet er sich einen ebenso dreisten wie magischen Abgang.
Im Finale 1973 wechselt sich Günter Netzer selbst ein und schießt Gladbach nur vier Minuten später zum Triumph im DFB-Pokal.
SPORT1 zeigt die Highlights des legendären Endspiels.
Udo Muras
Udo Muras

Heute vor 50 Jahren fand das wohl beste Pokalfinale aller Zeiten statt, das von einem spektakulären Moment gekrönt wurde. In einem Akt der Auflehnung wechselte sich Weltstar Günter Netzer selbst ein und rechtfertigte diese Dreistigkeit mit dem Siegtor für seine Gladbacher Borussia im Derby gegen den 1. FC Köln.

{ "placeholderType": "MREC" }

Es dürfte mehr als nur ein Zufall sein, dass das gemeinhin als bestes geltende DFB-Pokalfinale in die Glanzzeit des deutschen Fußballs fällt. Ein Jahr nachdem auch die angeblich beste Nationalmannschaft den Europameistertitel gewonnen hat, treffen am 23. Juni 1973 im Düsseldorfer Rheinstadion zwei Top-Klubs der Bundesliga aufeinander.

Netzer versus Overath

Sie werden von den großen Spielmacherrivalen jener Epoche gelenkt. Hier der 1. FC Köln mit Wolfgang Overath, dort Borussia Mönchengladbach mit dem ersten Popstar des deutschen Fußballs, Günter Netzer.

Wenn du hier klickst, siehst du Twitter-Inhalte und willigst ein, dass deine Daten zu den in der Datenschutzerklärung von Twitter dargestellten Zwecken verarbeitet werden. SPORT1 hat keinen Einfluss auf diese Datenverarbeitung. Du hast auch die Möglichkeit alle Social Widgets zu aktivieren. Hinweise zum Widerruf findest du hier.
IMMER AKZEPTIEREN
EINMAL AKZEPTIEREN

Beide tragen sie lange Haare und schlagen lange Bälle, die wie computergesteuert in den Lauf ihrer Mitspieler schweben - und beide kämpfen sie um die Herrschaft im Mittelfeld der Nationalmannschaft. Nie hat Deutschland bessere Zehner als in den Goldenen Siebzigern. Aber es sind auch nicht immer pflegeleichte Diven.

{ "placeholderType": "MREC" }

69.600 Zuschauer staunen, als die Aufstellungen bekannt gegeben werden, Hennes Weisweiler, der gestrenge Borussen-Trainer, hat Netzer auf die Bank gesetzt, das Duell der Feldherren scheint auszufallen.

Lesen Sie auch

„Ohne seinen Spielwitz sinken unsere Chancen“

Über die Gründe ist viel spekuliert worden, den einen gibt es nicht. Netzer erlebt turbulente Tage im Juni 1973, Wellenbäder der Gefühle. Als erster Deutscher unterzeichnet er für alle Welt überraschend einen Vertrag bei Real Madrid. Es ist eine Sensation, die seinen Verein und besonders den Trainer verärgert. Das Pokalfinale wird sein letztes Spiel für Borussia sein, so viel steht fest. Doch kurz zuvor stirbt seine Mutter und auf dem Weg ins Trainingslager baut er einen Unfall.

Verletzungssorgen kommen hinzu, eine Woche hat er nicht trainiert. Weisweiler hat Zweifel an seinem Gesamtzustand und fragt die Mannschaft, ob er Netzer draußen lassen könne. Das hat er innerlich längst beschlossen und so ignoriert er deren zaghaften Widerstand.

Er war der erste Popstar des deutschen Fußballs, besaß eine Diskothek und galt als Genie auf dem Platz. Jetzt wird Günter Netzer 75. Rückblick auf eine beeindruckende Karriere.
08:05
SPORT1 History zum 75. Geburtstag von Günter Netzer

Jungspund Rainer Bonhof, damals 19, sagt: „Mit Netzer sind wir stärker. Ohne seinen Spielwitz sinken unsere Chancen.“ Aber der Kapitän bleibt draußen, was er am Spieltag von Weisweiler erfährt und ihm gegenüber keck so kommentiert: „Das finde ich sehr mutig.“ Und natürlich empfindet der Fußballer des Jahres von 1972 das auch als Kränkung. Er beschließt, abzureisen. „Ich wollte aufs Zimmer, Koffer packen, und sagte: ‚Jungs, ich fahre nach Hause. Der Trainer hat mich nicht aufgestellt, ihr könnt mich nicht brauchen.“

{ "placeholderType": "MREC" }

So erzählte er es 2014 dem Kicker für dessen Sonderedition „Mythos Pokal“ und auch davor und danach noch sehr oft, was damals geschah.

Auch dieser Tage flattern die Interviewanfragen wieder im Hause Netzer ein zu einem Vorgang, der ein halbes Jahrhundert zurückliegt.

Netzer also ist bockig an diesem 23. Juni 1973, lässt sich aber von den Kameraden überreden, wenigstens auf der Bank Platz zu nehmen. „Das bist Du uns schuldig, wir haben zehn Jahre alles miteinander erlebt“, sagen die Vogts, Wimmer und Heynckes - und Netzer gibt nach: „Das sah ich ein.“

„Das ist das beste Spiel, das wir je gemacht haben“

90 Minuten lang ist es auch ohne ihn ein tolles Finale. Schon in der 2. Minute muss Kölns Bernd Cullmann auf der Linie retten, um das 0:1 durch Bernd Rupp zu verhindern. Nach 23 Minuten fällt es doch, Europameister Herbert Wimmer, einer von 14 Nationalspielern auf dem Feld, glückt mit einem Flachschuss die Gladbacher Führung.

Aber Herbert Neumann gleicht nach Overaths Hackentrick noch vor der Pause aus. Die Zuschauer spenden Beifall, das Spiel bei der Gluthitze, die an diesem Tag herrscht, übertrifft die Erwartungen. Fast jeder Angriff wird mit einem Torschuss abgeschlossen, die Reporter schreiben sich die Finger wund.

Bundestrainer Helmut Schön sagt zur Halbzeit: „Das ist eine echte Werbung für den Pokal. So ein Spiel ist nur im Cup-Wettbewerb möglich. Es wäre toll, wenn sich der offene Schlagabtausch fortsetzt.“

Günter Netzer prägte den deutschen Fußball
Günter Netzer prägte den deutschen Fußball

Sein Wunsch ist den Spielern Befehl. Fußball ohne Leerlauf, Chancen als Dutzendware, Lattentreffer und ein erster dramatischer Höhepunkt: in der 58. Minute kommt Jupp Heynckes nach Kapellmanns Foul zu Fall und schießt gegen alle Fußballgesetze den Elfmeter selbst - weil Spezialist Netzer fehlt. Gerd Welz im Kölner Tor krönt seine Glanzleistung und hält.

Auch sein Gegenüber Wolfgang Kleff hat einen großen Tag und weil zudem der Pfosten gleich viermal ein treuer Verbündeter ist, geht es mit 1:1 in die Verlängerung.

Günter Netzer wechselt sich selbst ein!

Sie beinhaltet eine legendäre Schlusspointe: Von den Rängen rufen sie nach Günter Netzer, der zur Halbzeit seine Einwechslung noch abgelehnt hat.

Netzer erzählt die Szene in der Kabine so: „Weisweiler spürte die Stimmung gegen sich und sagte: ‚Du spielst jetzt.‘ Ich sagte: ‚Nein.‘ Er sagte: ‚Wie, Du spielst nicht?‘ Ich sagte: ‚Nein, das ist das beste Spiel, das wir je gemacht haben. Wenn ich jetzt reingehe, bin ich ein Fremdkörper und schade dem Team nur.“ Ein ungeheuerlicher Akt der Auflehnung wird zur Machtprobe der Alphatiere.

Nur weil Netzer den Verein anschließend verlässt, hat sie wohl keine disziplinarischen Folgen. Knapp eine Stunde später hat er seine Meinung geändert. Nun drängt es ihn nach Aktivität, das hin und her wogende Drama braucht noch einen Helden.

Netzer geht nach Abpfiff der 90 Minuten zum auf dem Boden nach Luft japsenden Christian Kulik und sagt: „Ich sehe Dir an, Du kannst nicht mehr. Komm setz dich auf die Bank, ich spiele für Dich.“ Der 20-Jährige wagt keinen Widerspruch („Ich war einfach platt und froh, dass ich nicht weiterspielen musste“). Dass Weisweiler davon nichts weiß, weiß wiederum Kulik nicht. Der Presse sagt Netzer später: „Weisweiler hat zugestimmt.“ Charmant geflunkert.

Netzer.jpg

Die Initiative geht vom Star selbst aus und so kommt es zur ersten Selbsteinwechslung in einem bedeutenden Fußballspiel auf deutschem Boden. Als er sich die Trainingsjacke auszieht und das halbe Stadion Beifall klatscht, schafft er Fakten, die auch Weisweiler nicht mehr umstoßen kann. Der lässt es zwar so aussehen, als sei immer noch der Trainer der Boss, innerlich aber kocht er.

Es kommt noch besser: Mit seinem ersten Ballkontakt spielt Netzer in der 93. Minute auf Bonhof, der nach guter Gladbacher Sitte per Doppelpass wieder zurück auf Netzer - und dem gelingt mit dem schwachen linken Fuß aus 15 Metern ein Traumtor in den Winkel, das das Finale entscheidet.

Dass der Spielzug im Training mit Bonhof „nie geklappt“ habe (Netzer) und er den Ball „völlig falsch, mit dem linken Außenspann“ traf, gehört zum Legendenstoff dieses magischen Moments dazu. Der Fußballgott wollte es eben so und nicht anders haben.

Kölns Torwart Welz erfasst vielleicht als erster, was da eben geschehen ist. Noch 2013 sagt er dem DFB-Journal: „Er hat ihn nicht voll getroffen, sonst hätte ich ihn gehalten. Es waren zwar fast noch 30 Minuten zu spielen, aber ich wusste; das war‘s! Wegen der psychologischen Wirkung. Jetzt war der Superstar auf dem Platz und der trifft dann gleich…“

„Sicher der außergewöhnlichste Tag in meinem Fußballerleben“

Tatsächlich tut sich nichts mehr auf der Anzeigetafel bei diesem weiterhin hochklassigen Spiel und so wird der „Rebell am Ball“, wie seine erste Biographie lautet, zum Matchwinner.

Netzer sagt später: „Ich habe mich nie festgelegt auf das Größte, Einzigartige, aber es ist sicher der außergewöhnlichste Tag in meinem Fußballerleben, weil so viele menschliche Komponenten hineinspielten. Wenn man davon einen Film mit diesem Ablauf geplant hätte, wäre es zu kitschig gewesen: der große Held, der über den Bösen, den Trainer Weisweiler, triumphiert.“

Auf dem Bankett sprechen die beiden kein Wort, erst in der Düsseldorfer Altstadt kommt es in der Nacht zur Versöhnung. Auch Weisweiler, der mit großen Stars so seine Probleme hat (später Johan Cruyff in Barcelona und Overath in Köln), muss ja erkennen: Es ist der perfekte Abgang eines Genies in seinem letzten Spiel für eine deutsche Vereinsmannschaft - und der Höhepunkt eines Super-Finales.

Hinterher ist der Beifall groß, nicht nur bei der Siegerehrung. Der frühere DFB-Trainer Dettmar Cramer, damals für die Fifa tätig, lobt: „Jahrelang haben wir neidvoll über den Kanal nach Wembley zum englischen Cupfinale geschaut. Nach diesem wunderschönen Spiel haben wir das nicht mehr nötig.“ Der Kicker schreibt prophetische Worte: „Ein Spiel, das es verdient, dass noch nach Jahren von ihm gesprochen wird.“

Dank eines Mannes, der nach 50 Jahren noch dazu befragt wird und selbst kaum glauben kann, was damals passiert ist.