Wenn Norbert Dickel spricht, hört ganz Dortmund zu. Seit Jahrzehnten ist der Stadionsprecher untrennbar mit Borussia Dortmund verbunden.
BVB: "Ich kann nur Borussia – und sonst nichts"
„Ich kann nur Borussia - und sonst nichts“
Im exklusiven Gespräch mit SPORT1 erzählt die 64 Jahre alte Klub-Legende von seiner besonderen Liebe zum BVB, emotionalen Höhepunkten und dem Gefühl, Teil von etwas Einzigartigem zu sein.
SPORT1: Herr Dickel, der BVB beendet die Hinrunde nach einem soliden 2:0-Sieg gegen Gladbach auf Platz 2. Zufrieden?
Norbert Dickel: Mit 32 Punkten nach 15 Spielen dürfen wir zufrieden sein, ja. Unser bester Punkteschnitt zur Winterpause seit sieben Jahren - das zeigt, dass wir einiges richtig gemacht haben. Und ein Sieg im letzten Spiel des Jahres, dann auch noch mit einem Tor in letzter Minute vor unserer Gelben Wand - einen viel besseren Jahresabschluss hätte ich mir nicht vorstellen können.
SPORT1: Wenn Sie heute durch den Spielertunnel in diesem großen Tempel gehen, Herr Dickel – sind Sie dann eher Fan, Legende oder immer noch ein bisschen Spieler?
Dickel: Alles drei so ein bisschen. Ich habe immer noch sehr großen Respekt vor diesem Stadion, vor diesen 81.365 Zuschauern. Da durchzugehen, dieses Grundrauschen zu spüren – davor habe ich tiefen Respekt, das muss ich ehrlich sagen.
„Borussia Dortmund ist mein Leben“
SPORT1: Sie haben im Vorgespräch erzählt, dass Sie manchmal – gerade wenn die Abendsonne da ist – auch Momente haben, in denen Sie hier alleine sind, abends, und sagen: Ich habe Lust, ganz allein mal hier oben zu stehen. Gibt es das wirklich?
Dickel: Also ich setze mich nicht ins Auto, fahre ins Stadion und setze mich bewusst irgendwo in eine Ecke. Aber es gab in den vergangenen Jahren schon viele Momente, in denen ich spätabends alleine hier war, weil meine Frau hier gearbeitet hat – nicht beim BVB. Und dadurch war ich alleine hier und habe es jedes Mal genossen, in der Südostecke des Stadions zu stehen und so diagonal hineinzuschauen. Vielleicht zehn Prozent Licht an – und dann denkst du: Wow, was für ein geiles Stadion. Das ist schon toll, das muss ich echt sagen.
SPORT1: Was bedeutet Borussia Dortmund für Sie – in einem Wort?
Dickel: Das muss ich in zwei Wörtern sagen. Und nicht „Echte Liebe“, sondern „Mein Leben“. Borussia Dortmund ist mein Leben. Ich kann auch nichts anderes. Ich kann nur Borussia – und sonst nichts. Und hier bin ich vor vielen Jahren hingekommen, jetzt vor fast 40 Jahren. Es ist erstaunlich, dass ein Spiel – das Pokalspiel 1989 – mein Leben so nachhaltig beeinflusst hat, wie es geschehen ist. Deshalb: Ich bin mit Leib und Seele schwarz-gelb.
SPORT1: Wann haben Sie das wirklich gespürt? War es beim Berliner Pokalfinale?
Dickel: Nein, da noch nicht. Ich glaube, man realisiert nicht sofort, dass man in einem Endspiel zwei Tore schießt, und dadurch verändert sich dein Leben. Das war damals einfach der Moment des Glücks, der Freude, nach 23 Jahren endlich wieder einen Titel geholt zu haben. Das war Stolz. Und das ist dann im Laufe der Jahre entstanden. Ich war von 1992 bis Ende 1995 und Anfang 1996 ein bisschen unterwegs, hatte verschiedene andere Stationen. Dann bin ich wieder zurückgekommen. Und ab Anfang 1996 bis heute hat sich das so entwickelt, dass ich sage: Borussia Dortmund ist mein Leben.
SPORT1: Gibt es einen Moment, bei dem Sie heute noch Gänsehaut bekommen?
Dickel: Ich habe viele Gänsehaut-Momente. Der besondere war gar nicht fußballerisch, sondern beim Pokalfinale 1989, als wir ins Berliner Olympiastadion gekommen sind. Ich glaube, seit 1985 wurden die Endspiele dort ausgetragen. Als wir reinkamen und diese 40.000 schwarz-gelbe Wand gesehen haben – damals gab es noch die DDR, alle mussten da durch, das war eine Tortur für unsere Fans. Ich bin die Treppe runtergegangen, und das hat mich total überkommen. Ich dachte: Mein Gott, was diese Menschen alles auf sich nehmen. Ich merkte, wie mir die Tränen kamen, schaute nach links und rechts – und da lief unser damaliger Präsident neben mir, und der war auch am Weinen. Da war es bei mir vorbei. Das war einer der emotional größten BVB-Momente. Aber ich durfte fußballerisch auch viele erleben – als Spieler, als Stadionsprecher, als Mitarbeiter von Borussia Dortmund.
„Ich war fußballerisch eher aus der Abteilung Holzfäller“
SPORT1: Was war der größte Irrtum über Norbert Dickel als Spieler?
Dickel: (lacht laut) Dass ich ein Techniker war. Ich war jetzt kein kompletter Blinder, aber ich war auch keiner wie Andi Möller, Icke Häßler oder Pierre Littbarski – das sind Granaten am Ball gewesen. Aber ich glaube, sie haben mich trotzdem geschätzt, weil ich den Ball genommen und ins Tor geschossen habe. Michael Meier, unser ehemaliger Manager, hat einmal gesagt: „Der Nobby schießt aufs Tor, wenn du überhaupt nicht daran denkst, aufs Tor zu schießen.“ Und das war vielleicht meine Stärke.
SPORT1: Sie waren nie der lauteste Spieler, aber einer der kompromisslosesten. Was hat Sie auf dem Platz wirklich angetrieben?
Dickel: Mein unglaublicher Ehrgeiz. Ich war fußballerisch eher aus der Abteilung Holzfäller. Ich erinnere mich noch daran, als ich 1984 zum 1. FC Köln gekommen bin. Da mussten wir Übungen machen: Ball vom rechten Fuß auf den Oberschenkel, auf den Kopf, wieder runter – immer im Kreis. Neben mir standen Thomas Häßler und Pierre Littbarski. Die zählten dann 44, 45, 46. Wenn ich fünf geschafft habe, war ich der glücklichste Mensch der Erde. Aber ich hatte andere Qualitäten. Ich wusste immer, wo das Tor steht. Ich konnte vielleicht keine 80-Meter-Pässe schlagen, aber ich wusste, wie man Tore macht.
SPORT1: War es für Sie schwer, Ihre aktive Karriere beenden zu müssen? Und hatten Sie damals vielleicht auch Angst, den Fußball zu verlieren?
Dickel: Ja. Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich habe ungern aufgehört. Ich habe mit Leib und Seele Fußball gespielt. Aber ich muss auch sagen, dass ein Stück Druck weggefallen ist. Fußball zu spielen war auch immer ein immenser Druck. Und als das dann weg war, habe ich erst mal gesagt: Ich mache auf keinen Fall irgendwas im Fußball.
SPORT1: Deshalb haben Sie damals ganz andere Dinge gemacht?
Dickel: Genau. Ich habe erst andere Sachen gemacht. Ich habe Fördergrundlagen verkauft, dann habe ich bei Nike gearbeitet, dann habe ich Küchen verkauft. Ich habe dreimal komplett neu angefangen – mit Dingen, von denen ich eigentlich keine Ahnung hatte. Aber als ich Ende 1995, Anfang 1996 wieder zum Verein zurückgekommen bin, habe ich gemerkt: Fußball ist nun mal mein Leben. Und bis heute ist es das.
SPORT1: Waren Sie ab 1996 direkt wieder hier – nicht als Spieler, sondern als Stadionsprecher?
Dickel: Ich war schon seit 1992 Stadionsprecher. Das Pokalfinale war 1989, danach hatte ich noch eine Langzeittherapie bis 1990. Irgendwann musste ich aufgeben. Dann bin ich 1992 Stadionsprecher geworden. Aber ich bin damals nicht direkt zurück in die Administration oder Verwaltung des Vereins gegangen, sondern „nur“ als Stadionsprecher. Das ist erst dreieinhalb Jahre später passiert – mit Geschäftsstelle und allem.
SPORT1: Was machen Sie heute konkret beim BVB? Viele wissen das gar nicht.
Dickel: (lacht) Wie viel Zeit haben wir? Wir haben einen Fernsehsender, BVB-TV, wo ich als Moderator unterwegs bin. Wir haben einen Radiosender – das objektivste Radio der Welt, das BVB-NetRadio – wo ich über die Spiele berichte. Es gibt Formate beim BVB-TV, die ich mache, wie „Brinkhoffs Ballgeflüster“. Ich bin der Abteilung Marketing zugeordnet, Sponsorenfindung und -bindung. Ich bin viel für unser Reisebüro unterwegs, aber auch viel für die Stiftung. Ich richte mit Julia Klein das Weihnachtssingen und das BVB-Golfturnier aus – das sind wertvolle Einnahmequellen der Stiftung. Ich bin der Mann für alle Fälle.
SPORT1: Als Stadionsprecher sind Sie sehr laut, sehr emotional – und das seit vielen Jahren auf hohem Niveau. Wie viel Verantwortung spürt man, wenn einem 80.000 Menschen zuhören? Fühlt man sich da wie ein Popstar?
Dickel: Nein. Man hat eine sehr große Verantwortung. Das wurde mir besonders bewusst beim Anschlag auf unseren Mannschaftsbus damals. Das Stadion war bereits gut gefüllt und draußen gab es einen Knall. Da kamen gleich Gedanken an den Anschlag zwei Jahre zuvor in Paris auf, als die deutsche Nationalmannschaft gespielt hat. Und du weißt: Du darfst jetzt auf keinen Fall Unruhe reinbringen.
SPORT1: Wie sind Sie in diesem Moment damit umgegangen?
Dickel: Ich habe intuitiv gehandelt. Der damalige Innenminister von NRW ist hinterher zu mir gekommen und hat gesagt: „Herr Dickel, ich komme gerade von der Polizei-Nachbesprechung. Sie haben alles richtig gemacht. Dafür möchte ich Ihnen danken.“ Das hat mich sehr stolz gemacht.
SPORT1: Ab da geht man anders an diesen Job heran?
Dickel: Absolut. Viele denken, ich komme hierhin und sage nur: „Tor für den BVB, Torschütze Serhou Guirassy.“ Aber das ist viel mehr. Ich muss manchmal auch eine Rede halten, wenn ein Freund gestorben ist. Das ist alles andere als einfach. Ich habe mal gesagt: Wenn dieser Job Routine wird, höre ich auf.
„Das waren die schlimmsten Tage beim BVB“
SPORT1: Waren die schwersten Momente für Sie die Verabschiedungen von Teddy de Beer und Frank Mill?
Dickel: Ja. Das waren die schlimmsten Tage beim BVB. Das waren nicht nur Kollegen, das waren Freunde. Das nimmt einen selbst sehr mit. Aber ich wusste auch: Die Arbeit kann dir keiner abnehmen. Du musst da stehen.
SPORT1: Wie schaffen Sie den Spagat zwischen Euphorie, Fairness und echter Borussia-DNA am Mikrofon?
Dickel: Ich glaube, dass ich sehr ehrlich bin – und vor allem nicht unfair gegenüber dem Gegner. Ich habe hier im Stadion noch nie einen Gegner abfällig bewertet. Im NetRadio kann das schon mal passieren, dass mir etwas rausrutscht. Aber genau deshalb ist das seit 26 Jahren so erfolgreich: weil mein Kollege Boris und so sind, wie wir sind.
SPORT1: Packen Sie mal eine Anekdote aus, die Sie so noch nie erzählt haben.
Dickel: Es gab unfassbar viele schöne Situationen mit Kloppo (Jürgen Klopp, d. Red.) – ein unfassbarer Typ, ein unfassbarer Mensch. Wir hatten tolle Trainingslager, tolle Momente, als er Trainer war. Wir sind am Wochenende nie losgefahren mit der Frage: Gewinnen oder verlieren wir? Sondern: Wie viele kriegen die? Dieses Selbstvertrauen war unbeschreiblich.
SPORT1: Und dann?
Dickel: Dann gab es die große Sommersendung von „Brinkhoffs Ballgeflüster“. Ich hatte mir als Gäste Jürgen Klopp und Atze Schröder gewünscht. Mit Atze bin ich befreundet. Beide zögerten. Dann habe ich Jürgen angerufen und gesagt: Atze hat zugesagt – jetzt musst du auch. Er sagte: Wenn Atze kommt, komme ich auch. Er hatte aber nicht zugesagt. Ich habe also Atze angerufen und gesagt: Klopp hat zugesagt. Dann meinte er sofort „Dann muss ich ja kommen“. Am Ende kamen beide. Bis heute wissen sie nicht, dass ich sie beide ein bisschen angelogen habe. Kloppo, Atze, seid mir nicht böse. Diese Sendung war legendär. Ich war als Moderator völlig überflüssig. Die beiden haben anderthalb Stunden nur Klamauk gemacht. Das läuft heute noch auf YouTube rauf und runter.
„Jürgen wird sich dabei etwas gedacht haben“
SPORT1: Konnten Sie Klopps Wechsel zu RB nachvollziehen?
Dickel: Wir verstehen uns bis heute super. Es war damals eine tolle Zeit, als er beim BVB war. Jürgen wird sich dabei etwas gedacht haben.
SPORT1: Lassen Sie uns auch über die Aktualität sprechen. Niko Kovac hat den BVB neu belebt. Wie sehen Sie seine Arbeit?
Dickel: Wir kennen uns seit vielen Jahren, sind befreundet. Unser Verhältnis ist von Respekt geprägt. Niko ist ein sehr guter Trainer. Er hat genau das reingebracht, was gefehlt hat: Disziplin, Fitness, Stabilität und vor allem Siege. Für mich macht er einen super Job und passt sehr gut zu Borussia Dortmund. Niko bringt alles mit, um beim BVB dauerhaft erfolgreich zu sein. Es ist von Vorteil, wenn du die DNA des Klubs verstanden hast.
SPORT1: Karim Adeyemi hat zuletzt für Diskussionen gesorgt. Haben Sie ihn auch mal zur Seite genommen und gesagt: „Was sollte der Unsinn?“
Dickel: Nein. Mit ihm bin ich gut befreundet. Er ist ein sehr, sehr, sehr talentierter Fußballer. Wenn er auf dem Platz steht, weiß man nie, was im nächsten Moment passiert. Wir wollen Spieler, die mündig sind, eigene Meinungen haben, eigene Entscheidungen treffen. Wenn er mal etwas falsch macht, beschweren wir uns nicht. Karim muss man manchmal vielleicht etwas zur Ordnung rufen, aber so einen Spieler musst du einfach Fußball spielen lassen.
SPORT1: Ist Adeyemi für Sie ein Unterschiedsspieler?
Dickel: Absolut. Er hat diese Geschwindigkeit, die nicht jeder Fußballer hat. Er kann jedem auf dem Platz weglaufen. Das ist das Besondere an ihm. Ich schaue ihm gerne zu. Er ist ein toller Typ, ein verrückter Kerl, der auch mal Fehler macht.
Dickel hofft auf Schlotterbeck-Verbleib
SPORT1: Warum verlängert Nico Schlotterbeck eigentlich nicht?
Dickel: Dazu kann ich nichts sagen. Ich spreche lieber über Dinge, die in meinem Aufgabenbereich liegen. Vertragsverlängerungen gehören nicht dazu.
SPORT1: Würden Sie sich denn wünschen, dass er bleibt?
Dickel: Natürlich. Er ist ein sehr guter Verteidiger, den jeder Bundesligist gerne in seinen Reihen hätte. Ich würde ihn gern weiter hier sehen.
SPORT1: Gibt es einen aktuellen Spieler, der perfekt in Ihre Zeit gepasst hätte?
Dickel: Wir haben schon viele gute Spieler heute. Ich mag besonders Felix Nmecha. Seine Bewegung, seine Ausstrahlung, seine Entwicklung in den vergangenen zwölf Monaten – das macht mir richtig Spaß.
SPORT1: Echte Liebe – das ist beim BVB nicht bloß ein Slogan, es ist ein emotionales Markenversprechen. Wie leben Sie das im Alltag?
Dickel: Ich bin im nächsten Jahr seit 40 Jahren beim BVB, das ist schon echte Liebe, oder? Ich lebe Borussia Dortmund den ganzen Tag. Wenn man hier auf den Weihnachtsmarkt geht, sieht man, wie sehr mein Leben mit dem BVB verbunden ist.
SPORT1: Wenn Sie einem jungen Spieler heute einen Satz über den BVB mitgeben müssten, welcher wäre das?
Dickel: Geh hin. Wenn er das Talent hat. Ein 15-Jähriger kommt zur U16 und merkt dann, dass hier eine ganz andere Qualität herrscht, dann erkennt er, wie hart gearbeitet wird und wie professionell Fußball gespielt wird. Das ist ein ganz anderer Anspruch als in den unteren Ligen. Es gibt nur ganz wenige Jungs, die das schaffen.
SPORT1: Wie sollen die Menschen eines Tages über Norbert „Nobby“ Dickel sprechen?
Dickel: Ich würde mich freuen, wenn sie sagen würden: „Nobby ist echt ein feiner Kerl und ein echter Borusse.“
SPORT1: Was wünschen Sie sich für den BVB im Jahr 2026?
Dickel: Rein theoretisch können wir noch Meister werden. (lacht) Ich wünsche mir das Halbfinale in der Champions League und den zweiten Platz in der Bundesliga.