Für einen Moment wusste Florian Wirtz nicht so recht, wie er reagieren sollte. Patrik Schick hatte zweimal getroffen, Victor Boniface in der Verlängerung den letztlich entscheidenden Siegtreffer erzielt - und dennoch skandierten die Leverkusener Fans nach dem packenden Pokalkrimi gegen Köln lautstark seinen Namen, als die Mannschaft vor die eigene Kurve ging. Bisher war eine solche Sonderovation, wenn überhaupt, selten vorgekommen. Etwas schüchtern blieb er zunächst im Kreis seiner Teamkollegen stehen.
Wie Florian Wirtz in eine heikle Szene geriet
Wie Wirtz in eine heikle Szene geriet
Die Anhänger allerdings ließen nicht locker und wurden belohnt. Nach weiteren „Florian Wirtz, Florian Wirtz“- und „Komm, komm, komm“-Rufen half schließlich Jonathan Tah nach und schubste den Youngster an die Tribüne, bevor ihn die Ultras als Vorsänger auf den Zaun holten. Dort genoss es Wirtz, einst in der Jugend des rheinischen Rivalen ausgebildet, sichtlich. Immer wieder lächelte er und schaute stolz zum Rest seines Teams auf den Rasen hinunter. Nur auf der anderen Seite der BayArena kam die Aktion naturgemäß weniger gut an.
Einige Kölner empfanden es als pure Provokation, Wirtz als einzigen Leverkusener auf den Zaun zu bitten. So stand der Zauberfuß jedenfalls inmitten aller Feierlichkeiten, während die Ultras um ihn herum die üblichen Schmähgesänge in Richtung des Gäste-Bereiches anstimmten: „Die Nummer 1 am Rhein sind wir“, „Ihr könnt nach Hause fahren“ oder „2. Liga, Köln ist dabei“. Seit dem Wechsel des Nationalspielers zur Werkself geht es um seine Person immer wieder heiß her. Vor allem dann, wenn sich beide Vereine auf dem Rasen treffen. Dass die Fans Wirtz ausgerechnet in den Minuten nach diesem brisanten Derby zu sich holten, dürfte also kein Zufall gewesen sein.
Wirtz-Abgang sorgte für großen Wirbel
Denn der Wirtz-Abgang schmerzt in Köln nach wie vor sehr. Hintergrund: Im Januar 2020 wechselte er aus dem Nachwuchs der Domstädter nach Leverkusen, obwohl beide Klubs gemeinsam mit Borussia Mönchengladbach eine Vereinbarung unterzeichnet hatten, nach der Jugendspieler nicht gegenseitig abgeworben werden dürfen. Wirtz spielte zu diesem Zeitpunkt noch in der A-Jugend. Sein Vertrag wäre jedoch im Sommer 2020 ausgelaufen - und Köln versäumte es, Wirtz frühzeitig eine Perspektive aufzuzeigen.
So argumentierte Bayer, dass der Mittelfeldspieler ohnehin nicht mehr an Köln gebunden sei und plante ihn zudem direkt als Profispieler ein. Für läppische 200.000 Euro lotsten sie ihn auf die andere Rheinseite, wenige Wochen später sammelte Wirtz tatsächlich seine ersten Einsatzminuten in der ersten Mannschaft und avancierte schnell zum Stammspieler. Schon damals war die Empörung in Köln groß - richtig giftig wurde es aber dann, als er sich, wie es der Teufel wollte, im Spiel gegen den FC im März 2022 das vordere Kreuzband riss.
Während Wirtz mit der Trage abtransportiert wurde, bedachte ihn die Kölner Kurve mit lauten Pfiffen und üblen Beleidigungen. „Einerseits bin ich gebürtiger Kölner und habe dort eine sehr gute Entwicklung genommen und in meiner Jugend eine schöne Zeit gehabt. Dann habe ich mir bei einem Spiel dort aber einen Kreuzbandriss zugezogen und wurde nicht besonders gut behandelt“, erklärte er in der im Sommer erschienenen Dokumentation „Bayer Leverkusen – a dream comes true“ vom Streamingdienst Amazon Prime. Gegenüber dem 1. FC Köln habe er deshalb „gemischte Gefühle“.
Wirtz leitete die Wende gegen Köln ein
Nachvollziehbare Worte. Aber natürlich auch kernige Aussagen, die in Köln wieder nicht gut ankamen und umgehend die nächste Welle der Empörung auslösten. Wirtz gab seine passende Antwort nun auf dem Platz. Auch wenn ihm gegen den „Effzeh“ längst nicht alles gelang, war von Beginn an zu spüren, wie viel er sich vorgenommen hatte. Immer wieder konnte sich der Kreativkopf, der vom Gegner mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wurde, freischwimmen und gefährliche Aktionen einleiten. Bestes Beispiel: Sein traumhafter Assist vor dem 1:2-Anschlusstreffer.
Einen langen Pass von Tah nahm der auf Linksaußen startende Wirtz technisch perfekt mit der rechten Fußspitze auf Brusthöhe an, seine Körperhaltung ähnelte dabei dem ikonischen Bundesliga-Logo. Anschließend tanzte er FC-Verteidiger Jan Thielmann aus und legte den Ball für Schick auf, der aus spitzem Winkel einnetzte. „Florian hat das beim ersten Tor wieder sensationell gemacht. Sein erster Kontakt bei dem langen Ball war krank. Auch sein Assist - mit Auge“, schwärmte der Doppeltorschütze später.
„Die ganze Aktion war einfach sehr spektakulär“
Auch Trainer Xabi Alonso war von der Aktion seines Schützlings tief beeindruckt. Auf die Frage, ob er diese Ballannahme zu aktiven Zeiten auch hinbekommen hätte, antwortete der 43-Jährige nur: „Ich? Nein. Ich hatte andere Qualitäten, aber nicht die von Flo“, sagte der Baske: „Die ganze Aktion war einfach sehr spektakulär, vor allem die Vorlage für Patrik. Das Tor war sehr schön.“ Und sieben Minuten nach dem so überraschenden 0:2 der Kölner ein ganz wichtiges Zeichen, um eine komplizierte Partie noch umzubiegen.
Sieben Schlüsselpässe standen bei Wirtz am Ende der Verlängerung zu Buche. Dass die Kölner Träume vom ersten DFB-Pokal-Halbfinale seit 23 Jahren in allerletzter Minute platzten und Leverkusen im Duell David gegen Goliath den Kopf aus der Schlinge zog, hatte einmal mehr viel mit ihm zu tun. Selbst wenn er selbst nicht traf: Wirtz kaschierte, wie fragil Bayer an diesem Abend war. Ihn auf den Zaun zu holen, hätte sich daher auch sportlich erklären lassen.