Es war ein Moment für die Geschichtsbücher: Am Mittwochabend erklang in der kroatischen Arena Varazdin die Nationalhymne „Liberté“. Sechzehn Spieler, der Trainerstab und die wenigen mitgereisten Fans sangen aus voller Kehle mit – Guinea feierte sein WM-Debüt.
Der größte Underdog der WM
Dass am Ende eine 23:40-Niederlage gegen die Niederlande stand, rückte völlig in den Hintergrund. Die westafrikanische Nation hatte einen Meilenstein erreicht und sich einen lang gehegten Traum erfüllt.
David Michee Eponouh wurde an diesem Tag zur Symbolfigur des aufstrebenden Handball-Landes. Der 25 Jahre alte Verteidiger des französischen Drittligisten Draguignan Var Handball schrieb sich in die Geschichtsbücher ein, als er in der siebten Minute den ersten WM-Treffer für sein Land verbuchte.
Zuvor hatte das Team seine ersten sieben Angriffe nicht verwerten können. „Das erste guineische Tor der Geschichte zu erzielen, macht mich sehr glücklich“, sagte Eponouh nach dem Spiel zu ihf.info.
Er strahlte: „Ich bin sehr stolz darauf, mein Land vertreten zu dürfen. Es war ein großer Test für mich, gegen eine solche Mannschaft zu spielen, und es ist nicht das Niveau, das ich gewohnt bin.“
„Eine menschliche Reise, die über den Sport hinausgeht“
Hinter dem historischen Moment steht eine lange Reise. Trainer Kevin Decaux begleitet die Entwicklung des Teams seit 2012 in verschiedenen Rollen. Seine Rückkehr als Nationaltrainer zu Beginn des Jahres glich einer Heimkehr.
„Ich liebe Guinea und seine Menschen, denn sie haben mir alles gegeben und ich habe alles für sie gegeben. Es ist wie ein Kind, das nach Hause kommt, um seinen Vater zu sehen“, gestand er bei seiner Vorstellung im Januar.
Doch der Weg zur WM war steinig. Erst seit 2020 nimmt Guinea regelmäßig am Afrika-Cup teil. Der fünfte Platz bei der Afrikameisterschaft 2024 öffnete schließlich die Tür zur WM-Teilnahme.
„Kapitän Omar Baradji und Omar Diallo waren die Pioniere des Handballs in Guinea, die von Anfang an an dieses Projekt geglaubt und mich beim Aufbau dieser Mannschaft unterstützt haben“, erinnerte sich Decaux: „Dies ist mehr als nur eine Handball-Geschichte; es ist eine menschliche Reise, die über den Sport hinausgeht.“
Lernprozess auf höchster Ebene
Besonders im zweiten Durchgang gegen die Niederlande zeigte das Team sein Potenzial. „In der ersten Halbzeit taten wir uns etwas schwer, weil der Wettbewerb für uns neu ist“, erklärte Eponouh die anfängliche Nervosität.
Nach einer motivierenden Halbzeitansprache von Trainer Decaux drehte Guinea aber auf und gewann die ersten 15 Minuten der zweiten Hälfte sogar mit 10:9 – gegen eine niederländische Mannschaft, die ihre Stars wie Luc Steins und Kay Smits noch nicht ausgewechselt hatte. (Die Handball-WM 2025 im LIVETICKER auf SPORT1)
Aber die Realität des internationalen Handballs holte den Außenseiter schnell ein. Mit gerade einmal 1000 aktiven Handballern im Land war und ist Guinea der größte Underdog des Turniers. Zum Vergleich: Deutschland hat knapp 760.000 registrierte Spieler.
Handball-Welt beeindruckt von Guinea
Und so folgte auf die Auftaktniederlage gegen die Niederlande ein 18:35 gegen Ungarn – schlimmer war dabei die Szenen rund um Rückraumspieler Fenotina Bryan Doisel. Bereits nach vier Spielminuten krachte der 26-Jährige mit einem ungarischen Gegenspieler übel zusammen und erlitt eine Platzwunde am Kopf.
„Wir sind eine Mannschaft, die nie aufgibt, egal, wie der Gegner heißt“, betonte Linksaußen Adjiri Yven Corcher, der sein Geld in der zweiten französischen Liga verdient.
Und diese kämpferische Einstellung beeindruckte sogar den niederländischen Coach Staffan Olsson: „Mit der Arbeit, die sie leisten, müssen sie weitermachen und dann bin ich mir sicher, dass wir in Zukunft noch bessere Ergebnisse von ihnen sehen werden.“
„Ein großer Tag für unser Land“
Guinea schrieb als erst achte afrikanische Nation WM-Geschichte. Nach Kap Verde, das 2021 debütierte, war es das zweite afrikanische Team innerhalb von drei Weltmeisterschaften, das den Sprung auf die große Bühne schaffte.
Auch wenn in Gruppe D gegen die europäische Konkurrenz der sportliche Erfolg zunächst ausbleibt und die afrikanische Nation bisher vor dem dritten Gruppenspiel gegen Nordmazedonien (Sonntag, 18 Uhr) mit null Punkten dasteht, das Team hat sich seinen Traum erfüllt.
„Hier überhaupt auf dem Platz zu stehen, ist unser erster Sieg – ein großer Tag für unser Land, unser Team und unsere Familien“, fasste Corcher die historische Bedeutung zusammen.
Die WM-Teilnahme markiert für Guinea nicht das Ende, sondern den Anfang einer Reise. „Ich bin stolz auf die Stufen, die wir erklommen haben“, resümierte Decaux seine 13-jährige Entwicklungsarbeit.