Für Jannik Sinner ist es ein glimpfliches Ende - aber war das wirklich das richtige Signal im Anti-Doping-Kampf?
„Das ist das Ende des Systems“
Der Australian-Open-Sieger aus Südtirol kommt nach einem Vergleich mit der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) mit einer dreimonatigen Sperre davon, verpasst kein Grand-Slam-Turnier, behält aller Voraussicht nach auch seinen ersten Platz in der ATP-Weltrangliste. Die WADA folgt Sinners Verteidigungslinie, dass die verbotene Substanz Clostebol im März vergangenen Jahres unbeabsichtigt in seinen Körper gekommen sei und „keinen Wettbewerbsvorteil“ gebracht hätte.
Der für Sinner günstige Deal zieht viel Kritik auf sich - auch Doping-Experte Professor Fritz Sörgel kann es nicht nachvollziehen. Im SPORT1-Interview erklärt der Nürnberger Pharmakologe seine Sicht der Dinge.
SPORT1: Herr Sörgel, der frühere Tennis-Star Stan Wawrinka hat den Sinner-Deal mit den Worten kommentiert, er glaube nicht mehr an einen sauberen Sport. Teilen Sie diese Sicht?
Sörgel: Man muss es so hart sagen: Was die WADA da gemacht hat, bedeutet das Ende des Anti-Doping-Systems in seiner bisherigen Form.
SPORT1: Warum?
Sörgel: Es ist eine Form von Selbstaufgabe, die die WADA da betreibt. Das Ausmaß, in dem sie Sinner hier entgegenkommt, ist im Ergebnis die völlige Aushebelung des Prinzips der „Strict Liability“, der kompromisslosen Eigenverantwortung des Athleten, welche Substanzen in seinen Körper kommen. Das ist verheerend. Damit verliert das System einen Anker, auf den Fall Sinner und einige andere wird sich in Zukunft jeder berufen und eine milde Strafe für einen positiven Dopingtest einfordern können - solange ihm irgendeine dürre Ausrede dafür einfällt. Aber es passt ja dazu, wie man China in dem Schwimm-Skandal vor Olympia die Geschichte mit der Hotelküche hat durchgehen lassen.
SPORT1: Im Fall Sinner stellt die WADA die Geschichte der unbeabsichtigten Kontamination durch einen Masseur als plausibel dar. Sie sehen es weiter anders?
Sörgel: Um zu dem Schluss zu kommen, muss man sehr wohlwollend sein und sehr viele offene Fragen beiseite wischen. Beginnen wir mit dem von Sinner entlassenen Fitnesstrainer Umberto Ferrara, der laut eigener Instagram-Seite studierter Pharmazeut ist. Er steht, von der WADA überhaupt nicht hinterfragt, im Zentrum dieser Doping-Affäre. Er kauft sich im Februar 2024 eine Wundsalbe mit dem Antibiotikum Neomycin mit dem Namen Trofodermin.
SPORT1: Trofodermin enthält das Anabolikum Clostebol, wie man mittlerweile weiß.
Sörgel: Und hinzukommt, dass es bei keinem der Inhaltsstoffe in diesem Spray einen annähernd wissenschaftlich belegbaren Beweis gibt, dass er Wundheilungen begünstigt. In Deutschland unterliegt Clostebol dem strengen Betäubungsmittelrecht, in Italien allerdings ist das Spray ohne Rezept erhältlich.
SPORT1: Laut Sinners Darstellung hat sein ebenfalls entlassener Masseur Giacomo Naldi sich in den kleinen Finger geschnitten und vom Pharmazeuten Ferrara das besagte Spray zur Wundbehandlung bekommen.
Sörgel: Hierzu muss man wissen: Auf der Schachtel steht DOPING in schwarzen Großbuchstaben hinterlegt mit einem roten Verbotsschild. Selbst ein Laie hätte eine solche Salbe nicht im Umfeld eines Spitzensportlers verwendet und schon gar kein studierter Pharmazeut oder Apotheker. Als solcher hätte Ferrara das auch ohne Warnschild auf der Schachtel wissen müssen. Nein, ich verbessere mich, er wusste es.
SPORT1: Und der Masseur?
Sörgel: Der nicht, denn der Hinweis ist auf der Verpackung, nicht auf dem Spray selbst. Er wendet es an. Wäscht sich offensichtlich entgegen aller Hygienevorschriften für Masseure nicht die Hände, bevor er Sinner massiert. Und verbreitet so Neomycin und Clostebol auf der Haut von Sinner.
SPORT1: Das lässt Fragen zurück.
Sörgel: Viele sogar. Wozu hat Sinners Betreuerteam ein Wundspray mit Anabolika und der dicken Packungsaufschrift „Doping“ im Umfeld des weltbesten Tennisspielers gehabt? Warum greift man für den Zweck nicht auf ein ganz normales Mittel zurück? Kann Sinners Fitnesscoach Umberto Ferrara als ausgebildeter Apotheker da wirklich so arglos sein? Ist es wirklich glaubwürdig, dass Herr Sinner - so wie es seine Verteidigung zu seiner Entlastung behauptet - seinen Masseur extra gefragt hat, ob das Mittel auf dessen Fingerwunde unbelastet war? Wie kommt er denn auf diese Idee? Und warum hat der Masseur auf eine so kleine Fingerwunde so viel Clostebol draufgesprüht, dass es für zwei positive Dopingtests in der gemessenen Menge reicht? Das kommt mir alles nicht so ganz aus dem Leben gegriffen vor. Ich bin auch sehr verwundert über die offiziell formulierte Behauptung der WADA, dass Sinner „keinen leistungssteigernden Nutzen“ von seinem Kontakt mit der Substanz gehabt haben soll.
SPORT1: Warum?
Sörgel: Es erstaunt immer wieder, wie wenig WADA-Fachleute umfassende Kennmisse über die Wirkungsweise von Arzneimitteln haben. Die Frage einer direkten Leistungssteigerung bei geringen Dosierungen von Anabolika wie Clostebol stellt sich doch gar nicht.
SPORT1: Wie meinen Sie das?
Sörgel: Das Spray, über das das Clostebol in Sinners Körper gelangt sein soll, wird auf die Haut aufgetragen, unter der sich der Muskel befindet. Der Muskel spielt im Körper eines Sportlers jetzt keine unwesentliche Rolle, nicht wahr? Wir reden hier vor allem davon, dass die in die Muskulatur eingedrungene geringe Menge Clostebol eine Beschleunigung der Regeneration bewirkt. Die Regeneration des Muskels ist in einem gnadenlosen Sportbetrieb wie Tennis mit vielen Turnieren pro Jahr von entscheidender Bedeutung, weil es hartes Training und hohe Leistung im Wettkampf erst ermöglicht. Von Sinner ist bekannt, dass der bei diesen Anforderungen Auszeiten nimmt, was mehr als verständlich ist. Die Sperre kommt ihm also auch in der Hinsicht zugute. Und man muss auch bedenken: Gefunden wurde die Substanz bei einem Urintest, der gar keine präzise Aussage darüber geben kann, wie hoch die Konzentration des Clostebol an der Stelle war, wo sie zum Einsatz kam, bevor es dann über den Blutkreislauf aus dem Muskel abtransportiert und von der Niere ausgeschieden wurde. Schon allein deshalb ist es fragwürdig von der WADA, aus Urinwerten einen Effekt so in Abrede zu stellen.
SPORT1: Sie hatten in einem früheren Interview mit uns ein strenges Durchgreifen der WADA gefordert - gerade wegen Sinners Prominenz. Davon kann nun keine Rede sein.
Sörgel: Es wirkt völlig offensichtlich, dass die WADA Sinner hier eine für seine Interessen maßgeschneiderte Lösung angeboten hat: Ein Deal, der ihn kein Grand-Slam-Turnier verpassen lässt, ihn wohl auch nicht Platz 1 in der Weltrangliste kosten wird. Er konnte zum richtigen Zeitpunkt einschlagen und hat sich so die Unwägbarkeit eines Gangs vor den CAS gespart. Ich bin mir zwar sicher, dass das Urteil dort genauso milde ausgefallen wäre - auch der CAS hat den Anti-Doping-Kampf mit seiner athletenfreundlichen Rechtsprechung schon oft stark aufgeweicht. Das Verfahren hätte sich aber mehr in die Länge gezogen. Gerichte denken halt ein bisschen länger nach.
SPORT1: In einem Instagram-Kommentar bei SPORT1 hat der frühere Bundesliga-Profi Ivan Klasnic auf die Diskrepanz zu der Vier-Jahres-Sperre für HSV-Fußballer Mario Vuskovic hingewiesen. Vuskovic sei als kleines Rad im Fußball-System wohl entbehrlicher als ein Aushängeschild wie Sinner.
Sörgel: Kann man so sehen, aber zu dem Fall gibt es auch in der inneren Logik von CAS und WADA einen Unterschied: Bei Vuskovic geht es um EPO-Doping, da kann man beim besten Willen keine gute Begründung liefern, wie das versehentlich passiert sein soll - außer vielleicht einer Spritzenverwechslung beim Arzt. Das wäre dann auch dem CAS zu viel.
SPORT1: Auch der Tennissport wird froh über das milde und entlastende Urteil sein.
Sörgel: So wie auch über die Milde im Fall Iga Swiatek. Was den Anti-Doping-Kampf angeht, hat der Tennissport schon früher keine ruhmreiche Rolle gespielt, in diesem Fall hat er seinen Rest-Anstand über Bord geworfen. Es ist bitter, dass die WADA da mitmacht. Es spricht ja übrigens auch Bände, dass Sinners Fitnesscoach Ferrara nicht aus dem Verkehr gezogen wird, sondern kurz nach seiner Entlassung einen neuen Job bekommen hat: Bei Matteo Berrettini, der dann kurz nach Bekanntgabe des nahenden Engagements den Davis Cup gewonnen hat - mit Jannik Sinner. Ein schöner Treppenwitz. Ferrara hätte als Fachmann für Arzneimittel, Drogen und Dopingmittel von der WADA mit der üblichen Höchststrafe von vier Jahren aus dem Verkehr gezogen werden müssen.