Als es dann endlich vorüber war - dieses ganze epische Finale, das zweitlängste der Grand-Slam-Geschichte -, stand Rafael Nadal ohne Schläger da, direkt am Netz, beide Hände vors Gesicht geschlagen, und es wirkte, als könne er sich zwischen Weinen und Lachen nicht entscheiden.
Was Nadals Triumph so besonders macht
Die Wahrheit schien: Beides wäre möglich gewesen, das Lachen wie das Weinen. (Die Reaktionen zum Finale)
Nadal trug etwas im Gesicht, das zwischen den Dingen stand: die Freude über den Sieg, aber auch den Schmerz, den er auf dem Platz gelassen hatte, den er hatte lassen müssen, um dieses Match, dieses irre historische Match zu seinen Gunsten noch zu drehen und mit 21 Titeln zum Rekordchampion der Tennis-Geschichte aufzusteigen.
Nadal-Erfolg gegen Medvedev ein Kraftakt
Was diese Partie wirklich bedeutet hatte - übrigens nicht nur für Nadal, sondern auch für den unterlegenen Daniil Medvedev, der ebenfalls sein halbes Leben auf dem Platz gegeben hatte -, das zeigte sich auf der Uhr an der Seite des Center Courts von Melbourne.
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5:24 Stunden. Wer an diesem Nachmittag zu spät eingeschaltet hatte, konnte die Anzeige durchaus für einen Witz halten. Für Nadal und Medvedev war es kein Witz gewesen, sie hatten es erlebt, in jeder Faser ihres Körpers: fünf Stunden und 24 Minuten.
Besonders für Nadal, der vergangenen Sommer bereits 35 geworden war und dessen Teilnahme an den Australian Open wegen seiner ewig anhaltenden Fußprobleme lange infrage gestanden hatte, musste es ein Kraftakt gewesen sein, eine Herkulesaufgabe, eine Prüfung, die nur die Götter bestehen können.
Nicht nur, weil er fünf Stunden und 24 Minuten gespielt hatte, sondern vor allem, weil er über die größte Zeit des Matches einem Rückstand hinterhergelaufen war. (So reagieren Nadal und Medvedev auf das Finale)
Nadal mit leidvoller Reha
0:2 hatte es nach Sätzen geheißen, dann war der nie aufgebende Spanier zurückgekehrt. Aber wie eigentlich, nachdem er erst vor fünf Monaten operiert worden und anschließend durch eine leidvolle Reha gegangen war?
„Ich weiß es nicht. Ich bin einfach nur zerstört“, hatte Nadal nach dem Match bei Eurosport ins Mikrofon gehaucht, kraftlos, ausgezehrt - und damit offenbart, dass sich selbst der Held der legendären Story die eigene Leistung nicht erklären konnte.
Aber vielleicht gibt es diese Erklärung ja doch und sie handelt von einem Mann, der niemals aufgibt. Der weitermacht, wenn schon keiner mehr an ihn zu glauben scheint.
Zum Verständnis: Erst im August war Nadal am Fuß operiert worden, musste den Rest der Saison aussetzen. Der gebürtige Mallorquiner leidet an einer chronischen Fußkrankheit, dem Müller-Weiss-Syndrom, das in seinem Fall unheilbar ist. (Alle News zum Tennis)
Erst sei es „schwierig“ gewesen nach der Operation, erklärte Nadal im Interview mit der as am Montag: „Mit vielen Tagen der Frustration. Dann wurde es nach und nach besser. Die Behandlung zeigte erste Wirkung und ich habe ein wenig Licht gesehen.“
Für Australian Open: Nadal kämpft sich zurück
Über Wochen kämpfte sich Nadal zurück in den Sport, zunächst auf Krücken, später wieder im Gehen und schließlich im gewohnten Bild mit Tennisschläger - auf das erste leichte Training habe er zwei Monate hinarbeiten müssen, sagte der 35-Jährige, der für sein intensives physisches Spiel bekannt ist.
Die Folge dieser Spielweise: Nadal hatte schon in der Vergangenheit mit zahlreichen körperlichen Beschwerden zu kämpfen, einige davon so schwer, dass er monatelang pausieren musste - ein Grund vielleicht, warum es ihm auch diesmal gelang, aus dem Loch herauszukommen und im Finale Medvedev niederzuringen.
Nadal weiß, wie es sich anfühlt zu leiden - ob auf dem Court oder in der Reha. Nadal hat gelernt, damit umzugehen, denkt auch in schwierigen Zeiten nicht ans Aufhören, wie er im Interview mit der as neuerlich betonte.
Augenblicke des Zweifels habe es dennoch gegeben, erklärte der Rekordchampion. Besonders nach dem neuerlichen Rückschlag durch eine Corona-Infektion im Dezember. In dieser Zeit habe ihm seine Familie geholfen - denn wer könne das besser tun „als die Menschen, die du liebst, die dich lieben?“
Als Nadal dann am Sonntag in Melbourne - nach fünf Stunden und 24 Minuten, nach fünf Sätzen und zweien, die er zurückgelegen hatte - zum finalen Aufschlag ausholte, wirkte er ganz ruhig, wie jemand, der schon alles erlebt hat, der schon tausend Schritte gegangen ist und für den der letzte winzig scheint im Angesicht all dessen, was zuvor auf ihm gelastet hatte.
Nadal holte aus, er schlug - und Sekunden später war er der König von Australien, der nicht wusste, ob er lachen oder weinen sollte.