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Vierschanzentournee: Deutschland vs. Österreich? "Übelste Beschimpfungen"

DSV-Underdog in der Jägerrolle?

Jens Weißflog ist viermaliger Sieger der Vierschanzentournee. Im SPORT1-Interview spricht der 59-Jährige über die deutschen Chancen bei der aktuellen Ausgabe, den Favoritenkreis - und warum Markus Eisenbichler nicht nominiert wurde.
Severin Freund gewann Olympisches Gold, wurde vier Mal Weltmeister und gewann 2014/15 den Gesamtweltcup im Skispringen. Im "SKI & BERGE - Das DSV-Magazin" erklärt er die Hintergründe für seinen "frühen" Rücktritt mit 33 Jahren im Frühjahr 2022.
Jens Weißflog ist viermaliger Sieger der Vierschanzentournee. Im SPORT1-Interview spricht der 59-Jährige über die deutschen Chancen bei der aktuellen Ausgabe, den Favoritenkreis - und warum Markus Eisenbichler nicht nominiert wurde.

Das deutsche Skispringen befindet sich auf einem ungewöhnlichen Höhenflug, drei DSV-Stars stehen unter den besten Vier des Gesamtweltcups. Der Zeitpunkt für das Formhoch könnte kaum besser sein, startet doch am Donnerstag die 72. Ausgabe der prestigeträchtigen Vierschanzentournee (im Liveticker auf SPORT1).

Um einen deutschen Gesamtsieger in der Historie zu finden, bedarf es eines Blicks in vergangene Jahrzehnte. Einzig Sven Hannawald konnte nach der Jahrtausendwende den großen Coup feiern. Zuvor triumphierte Jens Weißflog gar viermal, und stieg somit in einen elitären Kreis auf.

Der 59-Jährige blickt im SPORT1-Interview auf die deutschen Chancen, den Favoritenkreis - und die Nichtnominierung eines Ex-Weltmeisters.

SPORT1: Die Deutschen Skispringer sind sehr gut in den Weltcup gestartet. Was kann man von den Athleten für die Vierschanzen-Tournee erwarten? Ist vielleicht sogar der Gesamtsieg möglich?

Jens Weißflog: Der Gesamtsieg war wahrscheinlich auch schon in den vergangenen Jahren drin. Auch dort sind Karl Geiger oder Markus Eisenbichler mal gut in die Saison gestartet und es hat dann leider nicht funktioniert. Es muss bei so einer Vierschanzentournee viel zusammenpassen. Trotzdem ist die Ausgangssituation wahrscheinlich so gut wie nie. Allerdings sehe ich nach wie vor Stefan Kraft als den großen Favoriten.

SPORT1: Wenn wir uns die deutschen Athleten anschauen, wem würden sie den großen Coup bei der Tournee am ehesten zutrauen?

Weißflog: Es fällt mir schon schwer, mich da zwischen Karl Geiger und Andreas Wellinger zu entscheiden. Ich würde aber Wellinger als denjenigen mit den größten Chancen sehen. Wobei beide wirklich sehr gut drauf sind und die Entscheidung deshalb extrem schwer ist.

Vierschanzentournee: Weißflog nennt Favoriten

SPORT1: Kann Pius Paschke gerade in der Rolle als Underdog mit Außenseiterchancen am entspanntesten in die Tournee gehen?

Weißflog: Es gab schon viele Überraschungssieger bei der Vierschanzentournee, wo man vor der Tournee nicht geglaubt hat, dass sie wirklich gewinnen können. Als Beispiel fällt mir der Österreicher Thomas Diethart ein, der nur die Tournee gewonnen hat und danach nicht mehr viel. Sowas kann immer passieren, weil bei jedem alles passen muss, um erfolgreich zu sein und man natürlich auch immer von äußeren Bedingungen abhängig ist. Deswegen spielt das Glück immer eine Rolle. Da kann dann jemand, der nicht den größten Leistungsdruck hat in der Jägerrolle sein.

SPORT1: Mit Blick auf das deutsche Team: Wie überrascht sind sie, dass es nach dem schweren vergangenen Jahr, aktuell so gut läuft?

Weißflog: Das letzte Jahr war nicht so wirklich erklärbar, gerade wenn man auf die Weltmeisterschaft mit Gold, Silber und Bronze schaut. Da hat sich gezeigt, dass man eigentlich nicht so weit weg ist. Beim Höhepunkt hat es funktioniert, aber über die Saison war es doch unglaublich inkonstant. Es gab aber auch immer wieder Springen, wo die DSV-Athleten vorne mit dabei waren. Deswegen sehe ich die letzte Saison nicht so dramatisch. Daher ist die aktuelle Situation für mich jetzt nicht so eine große Überraschung. Nun hat man - gerade auch was das Material angeht - wieder den Anschluss zur Spitze geschafft. Bei allem anderen war man auch in der letzten Saison nicht so weit weg.

SPORT1: Wen sehen Sie außer dem Top-Favoriten Stefan Kraft noch im Favoriten-Kreis bei der Tournee?

Weißflog: Über Weihnachten kann immer viel passieren, das haben wir in der Vergangenheit oft erlebt. Die Slowenen sind definitiv sehr kompakt mit vorne drin. Die Norweger hingegen hängen noch hinterher. Aber wahrscheinlich sind es dann doch die üblichen Verdächtigen rund um Kobayashi, Granerud, Lindvik und die Slowenen.

SPORT1: Auch wegen der langen Durststrecke bei der Tournee ist der Druck auf die deutschen Springer besonders hoch. Wie können die Springer damit am besten umgehen?

Weißflog: Gerade der mediale Druck gehört natürlich dazu. Die Springer können jetzt nicht sagen: Ich gehe zu keiner Pressekonferenz mehr und gebe kein Interview mehr. Außerhalb dieser Bereiche gibt es aber genug Möglichkeiten, sich abzuschotten. Diese Bereiche müssen die Springer für sich nutzen. Heute ist es zum Glück etwas begrenzter, wo Zuschauer überall hinkönnen. Zumindest an der Schanze können sie weitestgehend in ihrem Ruhebereich sein. Da kommt es drauf an, sich in Ruhe vorzubereiten. Früher bei uns standen die Zuschauer noch direkt daneben, wenn wir die Ski präpariert haben.

Eisenbichler? „Schwer das Ruder in der laufenden Saison rumzureißen“

SPORT1: Im Skispringen gab es schon immer die spezielle Rivalität zwischen Deutschland und Österreich. Erinnern Sie sich an Situationen, wo es vielleicht auch mal zu viel war? Und könnte sich das wieder verstärken, da Deutschland und Österreich in dieser Saison bislang die dominierenden Nationen sind?

Weißflog: Sowas entwickelt sich immer bei der Tournee. Diese Rivalität gibt es, seitdem es Skispringen gibt. Dass die dann ausufert wie im Fußballstadion, haben wir auch schon erlebt - egal ob Mitte der 70er Jahre zwischen der DDR und Österreich oder bei uns später. Da gab es zuweilen schon übelste Beschimpfungen, wenn ich an Bischofshofen denke. Glücklicherweise ist das heutzutage alles etwas weiter weg für den Springer, ohne dass es absolut kontaktlos ist. Insgesamt hat es sich zum Positiven entwickelt, dass die Fans nicht mehr so ausrasten.“

SPORT1: Markus Eisenbichler ist aktuell ein bisschen außen vor. Er wurde zuletzt auch ziemlich vom Bundestrainer kritisiert. Wie sehen sie seine Situation?

Weißflog: Das muss er (Eisenbichler, Anm. d. Red.) selbst wissen, wo der Fokus liegt. Oft ist es so, gerade bei älteren Sportlern, dass es schwer ist die Muskulatur mit seinem Training überhaupt zu erreichen - speziell bei der Schnellkraft. Ich will gar nicht bezweifeln, dass da noch genug Ehrgeiz ist. Der ist zweifellos da. Aber es ist sehr schwer, das Ruder in der laufenden Saison noch rumzureißen. Da hofft vielleicht jeder so ein bisschen auf ein Wunder.