Eigentlich war es ein großer Abend von Neymar, doch am Ende bleibt bei vielen wieder einmal nur eines in Erinnerung - seine Theatralik.
Tuchels riskante Rechnung mit Neymar
Beim 2:1-Sieg in der Champions League von Paris Saint-Germain gegen den FC Liverpool zeigte der brasilianische Superstar einmal mehr das ganze Repertoire seiner Schauspielkunst. Nach einem zugegeben etwas härterem Einsteigen von Liverpools Andrew Robertson markierte der PSG-Star den sterbenden Schwan - Fußball-Fans fühlten sich unfreiwillig an seine berüchtigten Einlagen bei der WM in Russland zurückerinnert.
Der britische Boulevard schimpfte, Neymar werde "nie auf einer Stufe mit Lionel Messi und Cristiano Ronaldo sein". Auch Liverpool-Trainer Jürgen Klopp blieb irgendwann nur noch die Flucht in Sarkasmus: "Dass Neymar noch stehen kann, nach allem, was auf ihn eingeprasselt ist an harten Tackles, ist ja Wahnsinn."
Sein deutscher Kollege bei PSG, Thomas Tuchel, wollte sich nach dem Spiel nicht zur Diskussion um Neymar äußern. Er hatte seine Gründe.
Tuchel sieht zwei Gesichter von Neymar
Tuchel sah am Abend einmal mehr die zwei Gesichter seines Superstars. In der ersten Halbzeit drehte der 26-Jährige auf, lieferte die vielleicht beste Halbzeit im PSG-Trikot ab und war mit dafür verantwortlich, dass die Reds zu Beginn quasi überrollt wurden. Das 2:0 erzielte der Superstar höchstselbst. Durch den Treffer ist er jetzt alleiniger brasilianischer Rekordtorschütze in der Champions League, er zog an Landsmann Kaka vorbei.
ANZEIGE: Champions League LIVE bei DAZN - jetzt kostenlosen Probemonat sichern!
In der zweiten Halbzeit sahen die Zuschauer dann wieder den Neymar, der die starken Eindrücke immer wieder trübt. Er wälzte sich auf dem Boden, gab akrobatische Einlagen zum Besten - und war auch spielerisch nicht mehr immer auf der Höhe.
Bezeichnend: Nach gut einer Stunde wurde er auf der linken Seite angespielt, doch der Ball trudelte einfach ins Aus. Neymar hatte sich abgewandt und versuchte lieber, die Fans anzustacheln als am Spiel teilzunehmen.
Die eine starke Halbzeit reichte dennoch für den Sieg, Paris kann das Achtelfinale am letzten Gruppenspieltag aus eigener Kraft erreichen.
Freie Hand für den PSG-Superstar
Tuchel weiß schon, warum er seinem Superstar freie Hand lässt.
Der Ex-BVB-Trainer traf sich schon vor seinem Start in Paris mit dem Brasilianer, um diesen zum Bleiben in der französischen Hauptstadt zu überreden. Er gewährt seinem Superstar Sonderrechte, befreit ihn fast gänzlich von Defensivaufgaben. Auch lässt er ihn immer öfter auf der Zehn spielen.
Die Mission von Neymar bei Paris ist klar definiert: Er soll sein Team durch seine spielerische Extraklasse beflügeln und endlich zum ersehnten Champions-League-Titel führen. Da werden ihm die theatralischen Einlagen verziehen - wenn es dann am Ende auch klappt.
Tuchel ließ schon in Dortmund schwierige Charaktere wie Pierre-Emerick Aubameyang und Ousmane Dembele an der langen Leine. Er weiß auch bei Neymar, dass er aus ihm kein Disziplin-Monster machen kann, dass er den Balance-Akt meistern muss, Neymar Freiheiten zu geben, ohne den Rest des Teams zu verprellen. Und dass er bei PSG auch letztlich am kürzeren Hebel sitzt, wenn er es auf einen Machtkampf mit dem 222-Millionen-Mann anlegen würde.
Ewig ungelöster Konflikt mit Cavani
Doch mit dem Balance-Akt ist das so eine Sache: Auch innerhalb der Mannschaft sorgt Neymars Hang zur Dramatik nicht nur für positives Echo. Erst vor kurzem brandete auch der Streit mit seinem Lieblingsfeind Edinson Cavani kurz neu auf. In der vergangenen Saison stritten die beiden Südamerikaner unter anderem mehrfach darum, wer wann welchen Elfmeter schießen durfte.
Der auch nach hinten emsig arbeitende Cavani soll auch nicht sehr glücklich sein, dass Neymar sich bei dieser Aufgabe vornehm raushält.
Beim Freundschaftsspiel von Brasilien und Uruguay brandete der Zoff dann neu auf. Cavani foulte Neymar, der sich einmal mehr theatralisch auf dem Boden wälzte. Der Uruguayer half seinem Klub-Kollegen genervt auf und gab ihm deutlich zu verstehen, was er von dieser Einlage hielt.
Neymar hat nur ein Ziel
Letztlich bleibt die Frage, ob Neymars spielerische Extraklasse groß genug ist, um diese von ihm selbst ausgelösten Fliehkräfte dauerhaft zu bremsen. Beim ein oder anderen Beobachter bleibt bisweilen der Eindruck hängen, dass Ausnahmetalent Kylian Mbappe sich von Neymars Flausen hat anstecken lassen.
Für PSG und Tuchel bleiben Neymars Launen ein Risiko, das noch vergrößert wird dadurch, dass sein Klub durch die schwache Konkurrenz in der heimischen Ligue 1 kaum gefordert wird - und damit auch Neymars Fokus bei großen Matches nur unregelmäßig trainiert werden könne.
Am Mittwoch hielt er gerade noch lang genug.