Trotz der durchwachsenen Vorbereitung blickt Michael Ballack zuversichtlich auf die WM in Russland.
Ballack: So stark ist das DFB-Team
Für den ehemaligen DFB-Kapitän, der zwei Welt- und drei Europameisterschaften bestritt, gehört die deutsche Nationalmannschaft zu den Favoriten auf den Turniersieg.
Beim Interview mit SPORT1 am Rande eines Termins seines Sponsors Betfair in London sprach Ballack über seine weiteren Titelkandidaten, die Stärken und Schwächen des Teams von Joachim Löw, die Führungsspieler, die Rolle von Manuel Neuer und die Ausbootung von Leroy Sane.
SPORT1: Herr Ballack, was trauen Sie der deutschen Mannschaft bei der WM zu?
Michael Ballack: Deutschland kommt mindestens ins Halbfinale! Da gibt es dann zwei mögliche Gegner, wo es 50:50 steht: England oder Spanien. Und auf der anderen Seite werden Frankreich und Brasilien den Endspielteilnehmer unter sich ausmachen. Das sind für mich die Topteams.
SPORT1: Wer ist Ihr Favorit?
Ballack: Spanien sehe ich wieder sehr stark, das hat man im Testspiel gegen Deutschland gesehen. Auch die spanischen Vereine haben mit den Erfolgen in der Champions League und in der Europa League gezeigt, dass mit ihnen wieder zu rechnen ist. Spanien ist wieder auf dem Level wie bei den großen Erfolgen zwischen 2008 und 2012.
SPORT1: Ist es vom Potenzial her die beste deutsche Mannschaft?
Ballack: Ich würde nicht sagen, dass Deutschland die stärkste Mannschaft aller Zeiten hat. Wir haben nach der WM 2014 auch einige wichtige Führungsspieler verloren, die ihre Karriere beendet haben. Aber Spieler wie Neuer, Hummels und Müller haben mittlerweile diese Rollen übernommen.
SPORT1: Die Vorbereitung lief allerdings sehr holprig...
Ballack: Wenn man fünf Länderspiele in Folge nicht gewinnt, können weder die Spieler noch der Trainer zu 100 Prozent glücklich sein. Jetzt müssen in kurzer Zeit diese vielen kleinen Probleme gelöst werden, um Spiele wieder in die richtige Richtung zu drehen. Gegen Österreich hätte zum Beispiel nach dem 1:0 das zweite und dritte Tor fallen müssen. Die Konzentration muss bis zum Ende gehalten werden, nur so wird Deutschland seinem Ruf wieder gerecht.
SPORT1: Könnte es schon in der Vorrunde Probleme geben?
Ballack: Eine der deutschen Stärken war immer, jeden Gegner zu respektieren. Diese Ernsthaftigkeit hat Deutschland schon in der Qualifikation eindrucksvoll gezeigt und wird es auch in der Gruppenphase zeigen. Wir werden auf jeden Gegner gut vorbereitet sein und kein Team unterschätzen - weder Mexiko noch Schweden oder Südkorea. Aber natürlich sind wir die Favoriten und die Mannschaft sollte als Weltmeister zuversichtlich genug sein, um durchzumarschieren.
SPORT1: Sehen Sie das Comeback von Manuel Neuer als Risiko?
Ballack: Es ist eine außergewöhnliche Situation. Aber Manuel Neuer ist ein fantastischer Spieler mit einer besonderen Position in der Mannschaft. Deshalb hat Joachim Löw getestet, ob Neuer nach seiner langen Pause der Mannschaft helfen kann. Wenn er fit ist, dann ist es gut für das Team, dass er dabei ist.
SPORT1: Verstehen Sie die Enttäuschung von Marc-Andre ter Stegen?
Ballack: Wie gesagt: Für Neuer ist eine Ausnahmeregelung getroffen worden, die für ter Stegen natürlich frustrierend ist. Er hat als Stammspieler beim FC Barcelona eine großartige Saison gespielt. Aber Neuer ist Kapitän und hat noch mal eine komplett andere Aura. Wenn Löw sich darauf festlegt und unbedingt diesen Spieler will, muss man das akzeptieren. Bei Neuer sehe ich auch kein Verletzungsrisiko. Er hat ja noch rechtzeitig bewiesen, dass er gesund ist.
SPORT1: Welche Spieler sind ansonsten wichtig für einen Erfolg bei der WM?
Ballack: Mats Hummels und Thomas Müller können die Mannschaft anführen. Auch Toni Kroos, der aufgrund seiner Erfolge mit Real Madrid ein hohes Standing im Team hat. Es ist immer gut, wenn du eine Achse mit einem Stürmer, Mittelfeldspieler, Verteidiger und Torwart hast. Das hat die Geschichte bei den großen Turnieren gezeigt.
SPORT1: Wer ist wichtiger für diese Achse: Timo Werner oder Mario Gomez?
Ballack: Weder noch, wichtig ist Thomas Müller. Werner ist noch zu jung, um ihn in diese Position zu drängen. Er muss erst seine Erfahrungen in der Nationalelf sammeln. Bei Gomez ist es eine andere Situation. Mit seiner Präsenz und seiner Erfahrung ist er definitiv jemand, den jede Mannschaft als typische Nummer 9 gut gebrauchen kann.
SPORT1: Wie wichtig ist es generell, Spieler mit großen Namen im Team zu haben?
Ballack: Es geht nicht immer darum, Superstars im Team zu haben, denn Fußball ist ein Mannschaftssport. Wichtig ist Qualität - und je besser man zusammenspielt, desto wahrscheinlicher ist es, zu gewinnen. Portugal zum Beispiel verlässt sich meist auf Cristiano Ronaldo. Sie haben eine starke Mannschaft, aber die Lücke zwischen Ronaldo und dem nächsten Talent ist sehr groß. Damit hat Ronaldo auch mehr Druck, was oft der Mannschaft nicht weiterhilft.
SPORT1: Bei der WM fehlen wird Leroy Sane. Das hat bei Ihnen für Unverständnis gesorgt...
Ballack: Ich war überrascht, dass solch ein guter Spieler zu Hause gelassen wird. Er hat eine wirklich gute Saison bei einem großen Klub gespielt und bewiesen, dass er auf höchstem Niveau mithalten kann - auch wenn er in der Nationalmannschaft das noch nicht so gezeigt hat. Aber das ist ja normal, wenn man auf sein Alter schaut. Er hat gezeigt, dass er auch bei der WM eine große Rolle spielen kann. Ich habe mich darauf gefreut, ihn in Russland zu sehen. Nur Löw kann die Antwort geben, warum er auf ihn verzichtet hat. Aber sportliche Gründe dafür kann ich nicht erkennen.