Reklamierarm, Ronaldo-Ruf und mehr: Best of Hoffmanns Erzählungen
Erzählungen 2015: Die Tsüiiiiih-Reklamation
Heinz Erhardt, um dies gleich vorweg zu sagen, hat das Thema Röhren eher skeptisch betrachtet.
"Damit wir sehen, was wir hören/ Erfand Herr Braun die Braunschen Röhren", dichtete der große deutsche Humorist einst über die berühmteste technische Innovation des Physiknobelpreisträgers Karl Ferdinand Braun.
Jedoch nur, um gleich darauf deutlich zu machen: "Wir wär'n Herrn Braun noch mehr verbunden/ Hätt' er was anderes erfunden."
Heutzutage würde eine solche Kritik ins Leere gehen. Plasma und flüssige Kristalle sorgen inzwischen dafür, dass wir sehen, was wir hören.
Die Röhren dagegen sind aus den meisten Fernsehhaushalten verschwunden und dabei, eine so ferne Erinnerung zu werden wie Karl Ferdinand Braun, Heinz Erhardt und die Redewendung "sehr verbunden".
Schade, denn im Gegensatz zu Plasma und Flüssigkristall war ihr Vorläufer noch etwas Handfestes. Der Mensch kommunizierte schon telemedial, aber besagte Kommunikation kam nicht in kleinen, flachen Dingern an, sondern in etwas Gewaltigem, Raumgreifendem, Raumfüllendem.
Ein großes, beeindruckendes Gerät, das nicht irgendein "Gadget" unter vielen war, sondern der unumstrittene Platzhirsch des Wohnzimmers. Ein Platzhirsch, dessen Regentschaft auf die gleiche Weise sichergestellt wurde wie in der Wildnis: durch Röhren.
Man sieht: Der begriffliche Zusammenhang zwischen Röhren und Röhren ist direkter, als manch sprachhistorisch Unbewanderter vielleicht glauben mag. Weshalb natürlich auch Cristiano Ronaldo eng mit beidem verbunden ist.
Ronaldo, einige werden es mitbekommen haben, ist zu Beginn dieser Woche zum Weltfußballer des Jahres gekürt worden.
Und hat danach dem Publikum Rätsel aufgegeben, weil er seine Dankesrede mit einem zunächst merkwürdig anmutenden Laut beschloss.
"Tsüiiiiih!" rief Ronaldo am Montagabend durch das Kongresshaus in Zürich - eine phonetisch komplexe Mischung aus einem Pfui-Ruf und dem in diesen Tagen oft zu hörenden "Ziiiiieh!", mit dem Skisprungbegeisterte ihre Idole zu weiten Flügen animieren wollen.
Was war das denn, war eine Frage, die im Anschluss häufig gestellt wurde. Dabei ist sie einfach zu beantworten.
Man muss lediglich bedenken, dass man sich die Weltfußballerwahl in etwa so vorstellen kann wie einen großangelegten Revierkampf zur Ermittlung eines Weltplatzhirschen - nur eben mit mehr Drumherum, vielen Zuschauern in Fracks und Ballkleidern und mit Fußballern anstelle von Hirschen.
So gesehen ist es keine Überraschung, dass Cristiano Ronaldo seinen Sieg bei dieser Veranstaltung beging, wie ihn im analogen Fall auch der Sieger der Weltplatzhirschwahl begangen hätte.
"Tsüiiiiih!" rief Ronaldo also, so wie der Rothirsch ruft, wenn er seine Rivalen nach erfolgreichem Kampf zurück ins Rudel drängt.
Es ist ein erhabener Moment, einen ausgewachsenen Zwölfender hierbei zu erleben. Und es war ebenso beeindruckend, Cristiano Ronaldo dabei zuzusehen, wie er seine unterlegenen Rivalen Manuel Neuer und Lionel Messi ins Röhren gucken ließ.
Selbst wenn man es nur auf einem neumodischen Flachbildschirm verfolgen konnte: Es war großes Röhrenfernsehen.
Und hätte vielleicht sogar Heinz Erhardt gefallen.
Die Reklamation
Es gibt da ja zum Beispiel das Motzen.
Dann das Meckern, das Mosern, das Maulen. Das Nörgeln, das Nölen. Das Geifern, das Grollen. Das Wüten, das Wettern. Das Zürnen, das Zetern.
Für die Artikulation des Umstands, dass man mit etwas oder jemandem nicht einverstanden ist, gibt es viele Worte, die meisten davon keine schönen. Eines von ihnen aber hebt sich wohltuend ab: das Reklamieren.
Re-kla-mie-ren: Schon die Länge des Begriffs, seine doppelt über dem Durchschnitt liegende Silbenzahl, signalisiert, dass es sich dabei nicht um einen Jedermannsausdruck handelt.
Man denkt bei dem Wort nicht an schnell hingetippte Aufreger-Schlagzeilen, man denkt an gut gereifte Literatur, an die Manns, an Schnitzler, Fontane - all die Autorengrößen, die man wahrscheinlich nicht zufällig aus den Reclam-Heften kennt.
Bei "Reklamieren" taucht nicht der schlichte Wüterich vor dem geistigen Auge auf, es erscheint stattdessen der gut situierte Geheimrat Bürstenkamp, der gemessenen Schrittes den örtlichen Kurzwarenladen betritt und den Kurzwarenhändler Wonnewinkel ruhig, aber bestimmt wissen lässt: "Herr Wonnewinkel, ich reklamiere diese Kurzware."
Es ist erfreulich, dass sich das Reklamieren auch in der Moderne gehalten hat, dass es im Fußball sogar das übliche Wort dafür ist, wenn Spieler Entscheidungen des Schiedsrichters beanstanden.
Klar, ganz unterschiedslos hat sich das Wort nicht übertragen vom Bildungsbürger- ins Rudelbildungsbürgertum: Das Reklamieren in der Hitze des fußballerischen Gefechts geht nicht jedesmal so gesittet zu wie im Kurzwarenhandel Wonnewinkel.
Auch der Tatsache, dass das Tempo eines modernen Fußballspiels ein weit höheres geworden ist als das eines Thomas-Mann-Romans, muss das Reklamieren Tribut zollen: Für fein ausgearbeitete Dialoge ist da oft nicht mehr die Zeit, das Reklamieren muss da oft prosaisch verdichtet werden auf Sätze wie: "Der hat schon Gelb!"
Bisweilen ist überhaupt gar nicht mehr die Zeit für Sprache, sie reicht stattdessen nur für einen kurzen, körperlichen Reflex.
Manuel Neuer, der deutsche Nationaltorhüter in Diensten des FC Bayern München, hat es in dieser Disziplin zu einer gewissen Meisterschaft gebracht: Der hochschnellende Arm ist - wie bei vielen anderen - das Mittel seiner Wahl, immer dann, wenn er einen gegnerischen Stürmer der Abseitsposition verdächtigt.
Diese Woche, den ersten beiden Gegentoren seines Klubs gegen den FC Barcelona, war Manuel Neuers Art des Reklamierens einmal mehr zu besichtigen - und hat eine kleine Debatte ausgelöst, ob der Keeper bei dem Thema nicht einem unrechtmäßigen Generalverdacht erlegen ist.
Die Feststellung "Manuel Neuer hat den Arm gehoben" versah ZDF-Kommentator Oliver Schmidt mit dem durchaus fontanesken Einschub "mit Verlaub: wie fast immer" - und löste damit einen kleinen, sozialmedialen Wirbelsturm aus.
Der "Reklamierarm" wurde zu einem Trendbegriff bei Twitter, dem Kurzwarenhandel der digitalen Ära. Er schaffte es in ein paar hundert Einträge und auch zu zwei eigenen Accounts beim Nachrichtendienst.
Nun leben wir wie erwähnt in schnelllebigen Zeiten. Und ein paar hundert Twitter-Einträge haben nicht gleich automatisch das Gewicht eines Fontane-Romans.
Es ist also noch nicht abzusehen, ob der Reklamierarm der Nachwelt in gleicher Weise in Erinnerung bleiben wird wie Hand Gottes, die Wade der Nation oder die diversen, von Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt erfundenen Körperteile.
Zu wünschen wäre es ihm in jedem Fall. Und sie können diese Kolumne durchaus als Reklame dafür verstehen.
Der Fußball, ein Helene-Kartell
Helene Fischer, das gleich mal vorab, ist natürlich eine tolle Künstlerin, ohne jede Frage.
Also das jedenfalls, was man heute damit meint, wenn man jemanden eine tolle Künstlerin nennt, bestimmt was Gutes.
Und ihre Lieder. Atemlos, nur als Beispiel: toll. Die anderen: auch. Und die Bühnenshows, und die ganzen tollen Produktlinien, und überhaupt: Helene Fischer ist einfach - was will man noch sagen.
Nichts Schlechtes auf jeden Fall, selbst wenn - Gott bewahre - man bei ihr irgendwas in diese Richtung denken würde.
Aber man hat auch gar nicht mehr das Gefühl, dass es eine gute Idee wäre, etwas Schlechtes über Helene Fischer zu sagen. Wenn man noch etwas werden will in dieser Branche.
Ich meine: Schauen Sie sich mal um, wer sich da alles positioniert hat.
Der Klopp: Fischer-Fan.
Der Breitenreiter, der Neue auf Schalke: Fischer-Fan.
"Großartige Entertainerin", sagt Löw: "Grandiose Stimmungskanone." - "Die Frau hat Power." - "Ihren Ohrwum 'Atemlos' hat unser Team immer wieder im Chor geschmettert." Der Schweinsteiger am lautesten.
Das ist eine Hausnummer, ein Netzwerk, ich sag's Ihnen, da will man sich nicht anlegen. Man verbaut sich Dinge. Will man das?
Überlegen Sie mal. Haben Sie das irgendwen erlebt aus dem Fußball, der mal gesagt hätte: Helene Fischer, die find ich mittelprächtig - fast ein bisschen schlecht, einzelne Takte zumindest. Nein? Und wundern Sie sich?
Die Geschichte von dieser Woche sollte Sie da auch nicht wundern. Der Kevin Trapp, ein Junger, der noch was werden will. Geht deshalb ins Ausland, zu einem großen Klub, gute Sache, an sich ja schon.
Aber die langfristig noch bessere Sache, networkingmäßig, ist ja, dass er singen will, für die neuen Teamkollegen. Helene, klar.
Ein kluger Schachzug, man muss es sagen. Es wird sich rumsprechen, beim Löw, bei den anderen: Der Trapp, einer von uns. Kann nicht schaden.
Und es verbreitet sich so ja auch, immer weiter. Wenn der Trapp jetzt nach Frankreich geht, der Klopp, der Schweinsteiger nach England (also vielleicht, will ja hier keine Spekulationen befeuern), die ganzen Dortmunder - ja auch alles Helene-Fans - nach Asien, in die Premium-Märkte. Das wird ganz groß, ich sage es Ihnen.
Man denkt sich ja schon jetzt, was los sein wird, wenn sich der Trapp vor den Zlatan Ibrahimovic stellt und lossingt, das Helene-Lied, mit allem Drum und Dran: Dass er seine Augen schließt, jedes Tabu löscht, Küsse auf der Haut, Liebes-Tattoo, oho, oho. Atemlos, schwindelfrei, großes Kino.
Und stellen Sie sich mal vor, der Zlatan hört das, denkt drüber nach, geht das durch, Wort für Wort. Und denkt sich dann so: "Not bad."
Man muss schon sagen: Es war eine kokette Nummer von der Helene, damals, auf der Fanmeile, als sie so gesungen hat: "Atemlos durch die Nacht, sieh was Fußball mit uns macht."
Sie könnte ja längst singen: "Sieh, was ich mit dem Fußball gemacht habe."
Ich schmeiß dich zu mit meinem Geld
Fällen wir an dieser Stelle kein Urteil über Tim Wiese.
Ja, es ist nach Lage der Dinge klar, was die Pressesprecherin der Stadt Bremen bestätigt hat: Dass der ehemalige Nationaltorwart am Rande eines Friseurtermins lautstark seinen Unmut gegenüber einer Verkehrsüberwacherin geäußert und ihr Geld vor die Füße geworfen hat.
Aber, und das ist das Entscheidende: Der "spezielle Vorfall" befinde sich noch in der Prüfung, anhand derer entschieden wird, ob eine Anzeige erstattet wird oder nicht. Und dem Ergebnis dieser Prüfung sollte man nicht vorgreifen - zu komplex ist die Aufgabe, vor der das dafür zuständige Ermittlerteam hier steht.
Das Werfen mit Geld ist schließlich ein symbolischer Akt mit einer langen kulturellen Vorgeschichte, in deren Verlauf dieser Akt immer wieder unterschiedlich zu deuten war.
Erfunden haben ihn vermutlich die alten Römer: Der noch heute recht verbreitete Münzwurf galt ihnen als Weg um herauszufinden, wie die Götter bestimmte Streitfragen klären würden.
"Navia aut caput" war damals die Schicksalsfrage, Schiff oder Kopf die beiden Seiten des Geldstücks - die Zahlen war bei den Römern noch nicht so groß.
Ungefähr in dieselbe Ära fiel der erste richtig berühmte Wurf mit Geld - Jesus vollzog ihn, als er es mitsamt seinen handelnden Besitzern aus dem Tempel von Jerusalem fliegen ließ.
Heiß diskutiert damals, langfristig setzte sich aber recht deutlich die Meinung durch, dass Jesus damit in einer frühen Tradition-vs.-Kommerz-Debatte auf wohltuende Art klare Kante gezeigt hat.
In späteren Zeiten waren es dann vor allem die kommerziell Erfolgreichen, die mit Geldwürfen auffällig wurden - was dann auch wieder eher kritisch gesehen wurde: Andere mit Zahlungsmitteln bewerfen? Das macht man nicht, so die allgemeine Haltung.
Tatsächlich gibt es eine Reihe von Beispielen, in der der Geldwurf eindeutig als unfreundliche Botschaft gemeint war: Man erinnere an den zweiten Akt der großen Verdi-Oper "La Traviata", an deren Ende der aufgebrachte Edelmann Alfredo sein gerade am Spieltisch neu gewonnenes Vermögen in Richtung seiner Violetta pfefferte - als Signal, dass er die vorher miteinander verbrachten Liebesstunden im Nachhinein als Dienstleistung verstand, für die er noch seinen Obolus entrichten mochte. Großes Drama.
Oder die Dietl-Figur des Generaldirektors Heinrich Haffenloher, der den Reporter Baby Schimmerlos mit dem Legende gewordenen Satz "Ich scheiß dich sowas von zu mit meinem Geld" verwünschte - man muss in diesem Zusammenhang wissen, dass das Wort "Schmeißen" früher mal eine ganz ähnliche Bedeutung hatte.
Der Reiche und Mächtige beschmeißt den Armen und Machtlosen mit Geld - das Muster ist beliebt, es läuft aber nicht immer so: Der Comedian, der FIFA-Präsident Joseph Blatter jüngst mit einem Banknotenregen besprenkelte, hat dieses Prinzip auf gewitzte Weise umgedreht.
Und in anderen Fällen - wie in der von Trickserien-Fans oft zitierten "Monetenschlacht" der Simpsons-Figuren Burns und Smithers - ist das Geldwerfen ein richtiggehend liebevoller Vorgang.
Ob Tim Wieses Geldwurf auf gleiche Weise zu bewerten ist: Das ist nun wie erwähnt Sache der hierfür berufenen Ermittler.
Mögen sie zum richtigen Ergebnis kommen, ohne dafür Münzen werfen zu müssen.
Wir sind wieder One
Wer bin ich - und wenn ja wie viele? Sie alle kennen die Frage, die der populäre Philosoph Richard David Precht vor einiger Zeit aufgeworfen hat.
Eine große Menschheitsfrage, die im Vergleich zu anderen großen Menschheitsfragen einen unschlagbaren Vorteil hat: Man kann sie beantworten, teilweise zumindest. Und es geht auch verhältnismäßig leicht.
Einmal durchgezählt, im Kopf überschlagen, zusammenrechnen, nochmal die Gegenprobe machen - und man hat's: Man ist ziemlich genau einer.
Bisschen wenig, kann man nun befinden. Aber durch Jammern hat letztlich noch niemand seinem Lebensglück auf die Sprünge geholfen - es gilt, aus den vorhandenen Mitteln das Beste herauszuholen: Klasse statt Masse, so muss man das sehen.
In genau diesem Sinne ist ja auch einst Jose Mourinho vor die Presse getreten, um seine ihm eigene Antwort auf Richard David Precht zu geben. Richard David, sagte er sinngemäß, wenn du mich fragst, wer und wie viele ich bin, dann sage ich dir: Nur einer, aber dafür ein besonderer Einer.
Beziehungsweise auf Englisch, weil mehr Breitenwirkung und letztlich auch schmissiger: I am a special one.
Was folgte, ist Geschichte - die uns in den vergangenen Tagen wieder eingeholt hat: Immer weniger Menschen, auch und gerade im Fußballgeschäft, begnügen sich damit, ein einfacher Einer zu sein.
Jürgen Klopp: The Normal One. Stefan Effenberg: The New One. Ein Jahrzehnt nach Mourinho ruft eine ganze Branche selbstbewusst in die Welt hinaus: Wir sind wieder One.
Verwunderlich ist der Trend nicht. Die Menschheit, um hier noch mal aufs große Ganze zurückzukommen, will es ja so.
Was bist du denn für einer, fragt sie sich gern und ausgiebig, wenn sie neue Leute trifft. Beziehungsweise, im weltmännischen Englisch gesprochen: What are you then for one?
Ein Gemeinschaftstyp, One of Us, wie bei ABBA? Oder mehr der Alleinunterhalter: One for the money, two for the show...?
So oder so: Man muss nur eins und eins zusammenzählen können, um zu verstehen, dass es besser ist, eine Antwort auf die große Frage parat zu haben.
Denn sonst macht die Menschheit das, was sie immer tut: Sie denkt sich selber ihren Teil. Denkt sich: Du bist mir ja einer, aha. Und schreibt es im schlimmsten Fall auch noch auf: So einer ist das also, naja.
Besser man vermeidet das und kann selbst auf den Punkt bringen, was für ein One man ist. Kriegt man das gut hin, sind klare Verhältnisse geschaffen - und im allerbesten Fall kann man hinterher sogar Kleidungsstücke damit bedrucken. Letztendlich haben da also alle was davon, eine One-one-Situation.
Wer bin ich und wenn ja, wie viele T-Shirts kann ich damit verkaufen? Es ist die logische Weiterentwicklung einer großen Menschheitsfrage.