„Wir müssen diese klaren Chancen unterbringen. Das ist immer unser Problem.“ Als Alfred Gislason in einer Auszeit nach rund 40 Minuten auf die deutsche Angriffsleistung zu sprechen kam, wurde er richtig laut. Er lobte im entscheidenden Hauptrundenspiel gegen Italien die Abwehr um Torhüter Andreas Wolff – aber die Chancenverwertung trieb ihn wie schon häufiger bei der Weltmeisterschaft schier zur Verzweiflung.
Hoffnungsträger aus dem Nichts

Doch einen nahm er von seiner Kritik aus und verteilte ein Sonderlob: „Franz, sehr gut!“ Angesprochener Franz Semper hatte lediglich vier Minuten zuvor zum ersten Mal WM-Luft geschnuppert, nachdem er in den ersten vier Spielen aufgrund von muskulären Problemen nicht zum Einsatz kommen konnte.
Deutschland war mit 17 Spielern zur Vor- und Hauptrunde nach Dänemark gereist. In den 16-Mann-Kader, der für jede Partie nominiert werden muss, wurden folglich bisher die restlichen Spieler berufen und Semper kurierte sich weiter aus.

Doch jetzt schlug die Stunde des Linkshänders vom SC DHfK Leipzig – erstens, weil er endlich wieder beschwerdefrei war, zweitens, weil eine weitere Option im Rückraum durch die Erkrankung von Juri Knorr dringend benötigt wurde. Und der 27-Jährige lieferte sofort ab!
Tor nach 20 Sekunden: Semper sofort auf Temperatur
Nach 36 Minuten und 15 Sekunden betrat er das Feld, 20 Sekunden später zappelte der Ball nach Zuspiel von Nils Lichtlein zum ersten Mal im Netz. „Das ist seine große Stärke, diese Durchschlagskraft“, schwärmte auch ZDF-Experte Sven-Sören Christophersen. Und 18 Sekunden später klingelte es nach starker Vorarbeit von Julian Köster erneut im Kasten von Italiens Domenico Ebner. Semper spielte unbekümmert auf, suchte beherzt den Abschluss und wurde belohnt.
Es folgten ein Siebenmeter-Treffer von Timo Kastening und ein Abstaubertor von Semper - nur 129 Sekunden nach der Einwechslung des 27-Jährigen war aus einem 16:14 ein 20:14 geworden. Über sieben Minuten war Italien zu diesem Zeitpunkt ohne Tor geblieben. Und auch nachdem sich der Underdog durch drei Tore in Folge wieder ein wenig herangearbeitet hatte, war der Leipziger zur Stelle.
Nur einen Fehlwurf hatte er sich in der Zwischenzeit geleistet und war am linken Pfosten gescheitert. In Minute 43 machte er es besser und verlud den überragenden Ebner zum 21:17. Knapper sollte es in der Folge nicht mehr werden.
Handball-WM: Lob von allen Seiten für DHB-Star
Am Ende standen fünf Tore bei sechs Wurfversuchen und ein Start ins Turnier für Semper, den er sich nicht hätte besser ausmalen können. „Das war wirklich extrem gut, dass er reinkam und eine super zweite Halbzeit gespielt hat“, schwärmte Gislason auch nach dem Spiel und war mit seinem Lob nicht allein.
Wolff betonte die Tatsache, dass Semper „seinem Vereinspartner Bälle einschenken konnte“. Auch Ebner spiele schließlich in Leipzig. Kapitän Johannes Golla hob das Betreuerteam hervor, das Semper bei seiner Genesung tatkräftig unterstützt habe. „Schön, dass sich die harte Arbeit von Franz und dem Medical Team ausgezahlt hat. Sie waren gefühlt Tag und Nacht an ihm dran und haben alles gegeben, damit er auf der Platte stehen kann. Er kam direkt mit Tempo und Selbstvertrauen rein, das haben wir gebraucht.“
Endlich Entlastung für müden Uscins
Große Freude über das Comeback dürfte auch bei einem Kollegen im rechten Rückraum herrschen: Renars Uscins. Dieser hatte im bisherigen Turnier eine (zu) große Last in der Offensive zu tragen. Licht und Schatten wechselten sich ab, auf überragende Aktionen folgten nicht selten überhastete Würfe oder vermeidbare Fehler. Beim DHB-Star zeigten sich die Auswirkungen einer anstrengenden Saison. „Renars hat einen ziemlich müden Eindruck gemacht“, sagte Gislason nach dem Italien-Spiel, in dem Uscins nur fünf Würfe nahm und in der Schlussphase mehr Pausen erhielt als gewohnt.
Umso wichtiger, dass Semper so schnell im Turnier angekommen ist und auch die Spielanteile von Berlin-Youngster Nils Lichtlein wachsen. Dieser ist im Rückraum variabel einsetzbar, wurde aufgrund des Ausfalls von Knorr aber vor allem in der Mitte gebraucht. Mit vier Toren aus sechs Würfen zeigte er eine gute Leistung, in der Defensive setzte Gislason zumeist auf Luca Witzke, der offensiv nicht an seine jüngsten Auftritte anknüpfen konnte (0/4).
Tunesien-Match bietet Möglichkeiten zur Belastungssteuerung
Im sportlich bedeutungslosen Spiel gegen Tunesien (Samstag, 20.30 Uhr im SPORT1-Liveticker) werden Semper und auch Lichtlein weitere Möglichkeiten erhalten, Spielpraxis zu sammeln und Abläufe zu verinnerlichen. Gislason kündigte bereits an, dass Vielspieler wie Golla, Uscins oder Julian Köster geschont werden sollen. „Wir werden da natürlich versuchen, die Last zu verteilen.“ Zwar werde jeder dabei sein, „aber hoffentlich wird es so sein, dass ich sie nicht so viel quälen muss“.
Darüber hinaus richtet sich der deutsche Blick bereits auf das Viertelfinale am kommenden Mittwoch in Oslo, in dem der Erstplatzierte aus der Hauptrundengruppe III wartet. Dort ist der Kampf um die vorderen Plätze noch völlig offen. Dass Gislason hinter eine Rückkehr von Knorr ein dickes Fragezeichen setzte, dürfte viele Fans besorgen. Umso besser, dass es mit Semper nun eine weitere Alternative gibt, die für Entlastung im deutschen Rückraum sorgen kann.