Auch wenn Nathalie Armbruster beim Weltcup im österreichischen Ramsau am Dachstein einen dramatischen Einbruch erlebte, ist ihr Saisonauftakt grundsätzlich gelungen. Drei Podestplätze feierte sie in den ersten vier Rennen des Winters. Für die Schwarzwälderin, die in der vergangenen Saison mit nur 19 Jahren als erste Deutsche den Gesamtweltcup in der Nordischen Kombination gewann und nebenbei den Abiturstress bewältigte, könnte alles so schön sein - gäbe es nicht diesen dunklen Schatten namens Olympia.
"Abwertend und ungerecht": Armbruster bangt um Zukunft ihrer Sportart
Sie bangt um die Zukunft ihrer Sportart
Bei den Wettkämpfen in Italien wird es keine Nordische Kombination der Frauen geben – und das Schlimmste steht womöglich noch bevor. Weil das Internationale Olympische Komitee (IOC) für 2030 die Gleichstellung der Geschlechter fordert, könnte sogar die gesamte Sportart gestrichen werden. Eine Entscheidung soll im Mai des kommenden Jahres fallen. SPORT1 sprach bereits vor dem Weltcup in Ramsau mit Armbruster über Ungewissheiten, Wut und fehlendes Verständnis.
SPORT1: Nathalie Armbruster, mit etwas Abstand gefragt: Was war in der ersten Jahreshälfte schwieriger – der Gewinn des Gesamtweltcups oder das Abitur?
Nathalie Armbruster: Wenn ich so darüber nachdenke, wahrscheinlich das Abitur (lacht). Die größte Schwierigkeit war natürlich, beides zu vereinen. Aber im Sport ging am Ende vieles leicht von der Hand, zumindest gefühlt. Ich war komplett im Flow. Bei einigen Wettkämpfen hatte ich eine richtige Leichtigkeit gespürt – obwohl mit zunehmendem Erfolg Dinge wie Interview-Anfragen oder der Druck bei der WM hinzukamen. Das Abitur noch nebenbei zu machen, dürfte tatsächlich die größere Herausforderung gewesen sein.
SPORT1: Das haben Sie aber nicht einfach irgendwie im Vorbeigehen, sondern mit der Note 1,0 abgeschlossen.
Armbruster: Keine Ahnung, wie ich das geschafft habe. Damit hätte ich niemals gerechnet. Wirklich nicht. Ich habe erst bei den Zwischenprüfungen realisiert, dass die 1,0 in greifbarer Nähe ist. Vor allem, weil ich im letzten Jahr gerade einmal 50 Prozent der Zeit anwesend war. In Baden-Württemberg (sie stammt aus dem Schwarzwald, Anm. d. Red.) wird immer behauptet, ich hätte mein Abitur gar nicht bekommen, wenn ich mehr als die Hälfte der Zeit gefehlt hätte. Da dachte ich mir kurz: Hui, das war ganz schön knapp.
Nordische Kombination: Armbruster erste deutsche Gesamtweltcupsiegerin
SPORT1: Auf den Ski lief es nicht schlechter als in der Schule. Sie schrieben Geschichte und gewannen als erste deutsche Kombiniererin ein Weltcup-Rennen, holten WM-Silber in der Mixed-Staffel in Trondheim und triumphierten als erste Deutsche im Gesamtweltcup. Wie blicken Sie darauf zurück?
Armbruster: Es ist verrückt. In den Momenten des Erfolgs selbst weiß man das zwar, aber man realisiert es gar nicht richtig. Erst, wenn einem jetzt noch einmal gesagt wird: ‚Du warst die erste, wirklich die allererste‘, wird einem das richtig bewusst. Erste deutsche Weltcupsiegerin, erste deutsche Gesamtweltcupsiegerin – das ist unglaublich. Ich bin extrem stolz darauf, wie die letzte Saison gelaufen ist und dass ich so oft Geschichte schreiben konnte.
SPORT1: Jetzt ist die neue Saison schon wieder im Gange.
Armbruster: Wie schnell die letzten Monate verflogen sind, ist krass. Gerade, weil ich nicht so recht wusste, wo ich eigentlich stehe. Zwischendurch hatte mich eine komische Virusinfektion erwischt. Es bestand der Verdacht auf Pfeiffersches Drüsenfieber. Der Epstein-Barr-Virus wurde sogar nachgewiesen, letztlich war es aber doch etwas anderes. Man weiß es bis heute nicht genau. Jedenfalls war es ein langes Hin und Her. Ich konnte in der Zeit keine intensiven Sachen trainieren, sondern nur Grundlagen wie Springen. Jetzt passt es aber wieder und ich freue mich sehr, dass die Saison so gut losging.
SPORT1: Doch es gibt ein großes Aber. Viele Wintersport-Stars bereiten sich derzeit auf Olympia 2026 vor und in der Theorie würden auch sie zu den deutschen Medaillenhoffnungen dort zählen. In der Praxis allerdings nicht. Es gibt nämlich keine Wettkämpfe für Frauen. Wie wütend macht Sie das?
Armbruster: Unfassbar wütend, es belastet mich emotional sehr. Der springende Punkt ist, dass die Entscheidung, die 2022 getroffen wurde, heutzutage einfach nicht mehr zu rechtfertigen ist. Das war der größte Fehler, den das IOC gemacht hat und kam in meinen bisherigen Aussagen über das Thema noch überhaupt nicht richtig rüber. Ich glaube, hätte man gesagt: ‚Wir beobachten das erstmal ein paar Jahre bis zur Saison 2024/25‘, hätte man auch anders entschieden. Im Vergleich zu 2022 hat sich das Niveau so sehr gesteigert, es gab einen riesigen Schub. Da gäbe es jetzt keine Gegenargumente mehr.
Armbruster: „Fühlt sich ungerecht und abwertend an“
SPORT1: Das IOC begründet die Entscheidung damit, dass die Nordische Kombination der Frauen noch zu jung sei. Es gebe außerdem zu wenige Nationen an der Spitze und die TV-Einschaltquoten seien zu niedrig.
Armbruster: Über diese Dinge wird in anderen Wintersportarten auch nicht diskutiert. Egal, in welche Wintersportart man schaut, es gibt immer dominantere Nationen. Und man muss sagen, dass das bei uns gar nicht markant ist. In anderen Sportarten sind auch nicht mehr Nationen vorne vertreten und es gibt auch nicht mehr Starterinnen. Im Vorjahr stand mal eine Japanerin, mal eine Deutsche, mal eine Österreicherin, mal eine Norwegerin, mal eine Finnin auf dem Podium. Da soll mir bitte erstmal jemand beweisen, dass es diese Abwechslung überall gibt.
SPORT1: Die norwegischen Langläufer feierten vor wenigen Wochen einen Achtfach-Triumph. Im Rodeln der Frauen gab es seit der Saison 1997/98 nur noch Gesamtweltcup-Siegerinnen aus Deutschland.
Armbruster: Und daran stört sich ja auch irgendwie niemand. Den Fakt kannte ich gar nicht, das werde ich mir merken. In fünf Jahren gab es bei uns eine US-Amerikanerin, zwei Norwegerinnen und eine Deutsche, die den Gesamtweltcup gewannen. Da hätten wir schon mehr Variation.
SPORT1: Ist es mit der heutigen Zeit überhaupt vereinbar, dass eine Wintersportdisziplin bei Olympia ohne Frauen ausgetragen wird?
Armbruster: Nein, überhaupt nicht. Schon gar nicht mit diesen Argumenten. Wir sind ein fester Bestandteil des Wintersports, unsere Wettkämpfe haben eine sehr hohe Qualität. Wir bringen Leistungen und zeigen ein Niveau, das aus meiner Sicht definitiv olympiawürdig ist. Es fühlt sich einfach ungerecht und abwertend an.
Droht der ganzen Nordischen Kombination das Olympia-Aus?
SPORT1: Es droht sogar, noch schlimmer zu kommen. Ab 2030 fordert das IOC die vollständige Gleichstellung der Geschlechter. Wenn diese nicht erfüllt wird, könnte die gesamte Sportart gestrichen werden. Eine Entscheidung soll im Mai fallen. Fürchten Sie um die Zukunft der Nordischen Kombination?
Armbruster: Darum mache ich mir sehr, sehr große Sorgen. Wir stecken inmitten einer Unsicherheit. Wenn die Entscheidung im Mai so ausfällt, wie sie ausfallen muss, ist natürlich alles gut. Sollte sie aber anders ausfallen, wissen wir nicht, was das bedeutet. Ob es dann überhaupt noch Weltcups gibt. Ob der DSV uns weiterhin unterstützen würde. Wir sind fast alle bei einer Behörde angestellt. Inwiefern würden die Bundeswehr, die Bundespolizei oder der Zoll uns weiter fördern? Und was macht das mit uns selbst? Der Sport ist ein riesiger Teil unseres Lebens. Das gilt für die Athletinnen und Athleten ebenso wie für die Trainer und Techniker. Auch sie müssten dann um ihre Arbeitsplätze fürchten.
SPORT1: Kann die mangelnde Sichtbarkeit der Kombiniererinnen junge Frauen auch davon abhalten, selbst im Leistungssport aktiv zu werden? Immerhin haben Vorbilder, die in den Medien präsent sind, darauf oft einen entscheidenden Einfluss.
Armbruster: Absolut. Warum sollte eine junge Sportlerin jetzt mit der Nordischen Kombination anfangen, wenn es keine richtige Perspektive gibt? Wenn mir früher jemand gesagt hätte: ‚Ja, Nathalie, du kannst hier gerne ein Jahr trainieren, aber danach wissen wir gar nicht, ob es die Sportart noch in dieser Form gibt‘, weiß ich nicht, ob ich nicht vielleicht etwas anderes gemacht hätte. Dass man den Nachwuchs demotiviert und indirekt schwächt, ist eine Begleiterscheinung des ganzes Olympia-Theaters.
SPORT1: Einige Ihrer Konkurrentinnen haben Konsequenzen aus der Situation gezogen und sind zum Skispringen gewechselt, um bei den Olympischen Spielen dabei sein zu können: die viermalige Weltmeisterin Gyda Westvold Hansen aus Norwegen und die WM-Dritte Lisa Hirner aus Österreich. Gab es bei Ihnen ähnliche Überlegungen?
Armbruster: Tatsächlich nicht. Ich betreibe die Nordische Kombination, weil ich sowohl Langlaufen als auch Skispringen liebe. Erst die Verbindung macht diese Sportart so besonders. Beide Disziplinen könnten unterschiedlicher nicht sein. Skispringen erfordert Schnellkraft, Langlaufen ist eine Ausdauersportart. Gerade diese Vielseitigkeit im Training gefällt mir so gut. Es geht nicht nur darum, Kilometer zu schrubben oder Sprünge zu machen. Es kommt so vieles dazu: Beispielsweise das Krafttraining oder auch mal eine Gymnastikeinheit. Für einen Wechsel zum Skispringen wie bei Gyda oder Lisa müsste ich meinen gesamten Lebensstil und meine Ernährung umstellen – das wäre es mir nicht wert.
Armbruster: „Merke, wie sehr mich das Thema Olympia mitnimmt“
SPORT1: Was könnt ihr als Athletinnen machen, um dem IOC zu zeigen, dass Frauenbewerbe bei Olympia in Zukunft etabliert werden müssen?
Armbruster: Am meisten hilft es natürlich, wenn wir weiterhin hochklassige Wettkämpfe abliefern. Damit müssen wir sie überzeugen. Aber wir dürfen auch nicht müde werden, immer wieder auf das Thema aufmerksam zu machen. Cool finde ich, dass fast jeder, dem man in der Gesellschaft davon erzählt, erstmal gleich reagiert. Mit einem ‚Hä, das gibt es noch nicht?‘ Da merkt man, dass wir nicht diejenigen sind, die komische Ansichten haben. Besondere Aktionen sind noch nicht geplant. Wenn wir jetzt wieder zusammen sind, werden uns aber garantiert welche einfallen. Das hat in der Vergangenheit schon gut geklappt. Einmal hatten wir uns im Wettkampf zum Beispiel Bärte angeklebt (lacht).
SPORT1: Für Sie ist ein Kindheitstraum geplatzt. Wie schaffen Sie es momentan, sich trotz der fehlenden Olympia-Wettbewerbe zu motivieren?
Armbruster: Damit habe ich an sich keine Probleme. Natürlich gibt es Tage, an denen man weniger motiviert ist. Ich merke aber, wie sehr mich das Thema Olympia mitnimmt. In letzter Zeit habe ich die eine oder andere Träne mehr verdrückt und bin bei manchen Gesprächen empfindsamer geworden. Man hört vieles nicht selten: ‚Naja, bei euch Frauen ist es leichter. Da gibt es ja weniger Konkurrenz. Da ist es leichter als bei den Männern, erfolgreich zu sein.‘ Wenn unsere Leistungen kleingeredet werden, tut das extrem weh. Denn wenn einige schon meinen, betonen zu müssen, dass Frauen das schwächere Geschlecht sind, dann sollte man es doch umso mehr wertschätzen, dass sich überhaupt etwa 35 Frauen pro Wettkampf trauen, sich von diesen Schanzen hinunterzustürzen.
SPORT1: Sie treten als Gesamtweltcupsiegerin an. Was haben Sie sich für den Winter vorgenommen?
Armbruster: Jede Athletin, die an den Start geht, will gewinnen. Allerdings möchte ich meine Ziele nicht zu hoch stecken, um mich etwas zu schützen. Menschen sind schließlich keine Maschinen. Manchmal läuft es nicht rund oder man fühlt sich nicht gut. Dann ist man auch als Gesamtweltcupsiegerin nicht automatisch vorne mit dabei. Dennoch wäre es schön, wenn ich bei jedem Wettkampf zu den Favoritinnen gehören und um das Podium mitlaufen könnte. Es ist immer etwas ganz Spezielles, die Siegerehrungen im Weltcup zu erleben.