Drei Jahre sind seit den bemerkenswerten Protestaktionen von Quarterback Colin Kaepernick gegen Polizeigewalt und soziale Ungleichheit in den USA mittlerweile vergangen.
Kaepernicks vergiftete NFL-Chance
Mehr als zwei Jahre ist das letzte NFL-Spiel des inzwischen 32-Jährigen her - doch jetzt erscheint die Chance, doch noch einen Fuß in die stärkste Football-Liga der Welt zu bekommen, so groß wie nie.
Kaepernick absolviert am Samstag ein von der NFL organisiertes privates Training und darf sich dabei allen Teams präsentieren. Dennoch klingen auch unüberhörbar Zweifel an dem Workout mit, Kaepernick-Kumpel Eric Reid bezeichnete es sogar als Werbegag.
PR-Stunt oder echte Chance? SPORT1 beantwortet die wichtigsten Fragen.
Ist Kaepernick fit genug für die NFL?
Seine Fitness wird wie auch seine Quarterback-Skills in dem Workout geprüft, außerdem soll er ein Interview geben, das allen Teams hinterher zugeschickt wird. Kaepernick selbst bezeichnet sich bei Twitter "seit drei Jahren in Form und bereit für die NFL." Im August postete er ein Video, das ihn um 5 Uhr morgens beim Training in einem Fitnessstudio zeigt.
Auch seine Berater bestätigen, dass Kaepernick regelmäßig trainiert hat und neben den Klagen gegen die NFL und der Arbeit für Charity-Organisationen viel Zeit fürs Training verwende. Unter anderem traf er sich zum Workout mit Superstar-Receiver Odell Beckham jr., um in Form zu bleiben.
Warum steigt das Workout ausgerechnet jetzt?
ESPN beruft sich auf liganahe Quellen, die von einem Statement der Kaepernick-Vertreter vor einem Monat berichten: Darin beschweren sich diese über "falsche Behauptungen" bezüglich der Situation des Spielmachers und machen klar, dass er noch immer in der NFL spielen wolle.
Außerdem haben laut ESPN diverse Teams bei der Liga bezüglich Kaepernick angefragt. Da die NFL stets antwortete, dass es den Teams frei stehe, sich mit ihm persönlich zu unterhalten, wolle sie durch das Trainings-Angebot weitere Fragen nach seinem Status abblocken und stattdessen potenziellen Arbeitgebern die Möglichkeit geben, sich bei dem Workout selbst ein Bild zu machen.
Wusste Kaepernick von dem Workout?
Nein. Erst am Dienstagvormittag wurde Kaepernicks Berater informiert, dass allen 32 Teams der Plan für das Workout in Kürze zugeschickt würde.
Die Wünsche seines Agenten wurden aber laut ESPN von der Liga abgeblockt. Unter anderem wollte er, dass das Probetraining an einem Dienstag stattfindet, wenn die meisten Workouts innerhalb der Saison steigen - auch die Möglichkeit einer Verschiebung, damit sich Kaepernick besser darauf vorbereiten könne, lehnte die Liga ab.
Warum steigt das Workout an einem Samstag?
Wie beschrieben stellen sich arbeitslose Footballer, die auf einen Vertrag in der NFL hoffen, meist am Dienstag vor, wenn die gesamten Teams in ihren Trainingszentren zugegen sind. Das ergibt schlichtweg für alle Seiten am meisten Sinn.
Da jedoch alle Teams bei Kaepernicks Workout zusehen können und dieses auch unter Profibedingungen in einem NFL-Trainingsgelände stattfinden soll, befürchtete die Liga, dass kein Team sein Zentrum in einer normalen Trainingswoche für alle anderen öffnen würde.
Nachdem die Atlanta Falcons am Samstag zu ihrem Auswärtsspiel nach Carolina aufbrechen, war das Gelände in Atlanta frei für Kaepernick.
Wer nimmt an dem Workout teil?
Kaepernick und seine Vertreter warten noch auf die Liste der Besucher, zahlreiche Teams kündigten jedoch ihre Teilnahme bereits an. Da die Headcoaches und General Manager jedoch am Samstag mit ihren Teams mitten in der intensiven Vorbereitung auf das Spiel am Wochenende sind, erscheint es extrem unwahrscheinlich, dass Verantwortliche dieser Franchises bei Kaepernicks Training zusehen. (DATENCENTER: Ergebnisse und Spielplan der NFL)
Ausnahmen sind die vier spielfreien Teams der Tennessee Titans, Green Bay Packers, Seattle Seahawks und New York Giants sowie die bereits im Thursday Night Game aktiven Pittsburgh Steelers und Cleveland Browns.
Am Workout werden demzufolge wohl eher Scouts als Entscheidungsträger der Teams teilnehmen. Durchgeführt wird das Probetraining ähnlich wie das jährliche Draft Combine von früheren NFL-Coaches. Dass Kaepernick selbst Zweifel hat, ließ er durchblicken, indem er twitterte, er freue sich auf "die Head Coaches und GMs am Samstag".
Wie groß sind die Chancen auf ein NFL-Comeback in dieser Saison?
Gleich null. Selbst wenn sich Kaepernick in bestechender Form präsentieren würde, hat er fast drei Jahre lang nicht mehr in der NFL gespielt und muss sich die gesamte Organisation und Taktik eines Teams erst aneignen. Zudem wird nur in Extremfällen der Quarterback in der letzten Saisonphase ausgetauscht.
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Die interessierten Teams werden sich das Workout vielmehr unter dem Gesichtspunkt ansehen, ob Kaepernick in die Quarterback-Planungen für die kommende Saison und danach passt. Womöglich könnte er zwar kurzfristig einen Vertrag unterzeichnen - allerdings nur, um das Team bereits kennenzulernen. Eventuell verpflichtet ihn auch erst in der Sommerpause ein Team - oder gar nicht, wie in den letzten drei Jahren zu sehen.
Was würde Kaepernick kosten?
Nach seinem Vertragsende bei den San Francisco 49ers 2017 soll der Spielmacher laut ESPN-Quellen ein Gehalt verlangt haben, das sich zwischen dem eines schwächeren Starters und eines gut verdienenden Backups bewegen würde - vermutlich also um die 5,5 Millionen pro Jahr wie Ryan Fitzpatrick (Miami Dolphins) oder Tyrod Taylor (Los Angeles Chargers). Teddy Bridgewater (New Orleans Saints) kassiert als Top-Backup sogar 7,25 Millionen pro Saison.
Diese Ansprüche hat Kaepernick zurückschrauben müssen, im Moment bliebe wohl nur ein durchschnittlicher Minimum-Vertrag eines Routiniers mit einigen spielzeitabhängigen Boni. Mit sechs Jahren NFL-Erfahrung wäre Kaepernicks Minimum-Salär pro Saison bei 805.000 Dollar angesiedelt.
Da während des Workouts auch ein Interview stattfindet, können interessierte Teams auch selbst nach dem anvisierten Gehalt fragen.
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Ist Kaepernick gut genug für die NFL?
Definitiv ja. Zwar kann niemand sagen, ob Kaepernick ein Starting Quarterback zu Beginn der Saison 2020 wäre - für einen Platz im Kader reicht es aber definitiv. In seiner letzten Saison 2016 hatte er laut ESPN Stats & Information ein besseres Quarterback-Rating (49,4) und eine bessere Touchdown-Interception-Quote (4,0) als ein durchschnittlicher NFL-Backup (42,5; 1,6) in dieser Saison.
Allein aufgrund seines großen Talents hätte Kaepernick in den letzten drei Jahren einen NFL-Vertrag mehr als verdient. Laut Adam Schefter von ESPN hatte er übrigens schon 2017 geplant, bei der US-Hymne nicht mehr zu knien. Eine Chance, dies zu beweisen, bekam er bekanntlich nicht.
Ist das Workout letztlich nur ein großer PR-Stunt?
Dies behauptet zumindest Eric Reid, der mit Kaepernick 2016 zusammenspielte und als erster NFL-Profi nach ihm ebenfalls bei der Hymne aufs Knie ging.
"Ich glaube es erst, wenn ich es sehe. Zurzeit fühlt es sich wie ein Werbegag an", meinte der Safety (mittlerweile bei den Carolina Panthers) bezüglich des Workouts. Das Vorgehen der NFL bezeichnete er als "unaufrichtig" und "merkwürdig".
Tatsächlich kann man gerade aufgrund des Termins und der abgelehnten Bitte des Kaepernick-Lagers um eine Verlegung zweifeln, wie groß die Chance für den ausgebooteten Quarterback tatsächlich ist.
Nötig hat die NFL einen PR-Effekt im eigentlichen Sinne aktuell nicht. Junge Superstars wie Patrick Mahomes oder Lamar Jackson, ein gutes Jahr mit starken TV-Quoten, die Hymnen-Proteste aus der öffentlichen Diskussion nahezu verschwunden - es läuft eigentlich bei der Liga.
Eher könnten sich sogar Kaepernick-Gegner ärgern, dass der Quarterback nun doch auf eine NFL-Chance hoffen darf - und Kritiker trotzdem auf die Fehler in der Workout-Planung hinweisen.
Letztlich versucht die Liga jetzt aber mit einem galanten Move, das Thema Kaepernick aus der Welt zu räumen: Man bietet dem Quarterback mit dem Workout vermeintlich eine Chance (und kann sich damit vor Kritikern brüsten) - sorgt durch die Ansetzung aber gleichzeitig dafür, dass es keine echte Möglichkeit für Kaepernick ist (weil maximal Scouts teilnehmen können).
Das "Zwei Fliegen mit einer Klappe"-Prinzip. "Ich habe meine Zweifel, was die Liga angeht", erklärte auch Eagles-Safety Malcolm Jenkins im Philadelphia Inquirer: "Jetzt können sie dann sagen: 'Schau, wir haben dir eine Chance gegeben ..." Ich wäre naiv, wenn ich da nicht misstrauisch wäre."
Immerhin bekommt Kaepernick überhaupt einmal noch die Chance, sich zu zeigen - ob es wirklich zum Comeback in der NFL reicht, hängt ganz offenslichtlich aber von mehr als seinen Leistungen in diesem Workout ab.