Ein Spiel zwischen Bayern München und dem VfL Wolfsburg verspricht in der Regel wenig Spektakel. Der wohl populärste Klub des Landes trifft auf einen Werksklub, dem die Herzen nur in der eigenen Stadt zufliegen. Es knistert nicht wirklich, obgleich auch diese Paarung seit 27 Jahren auf dem Bundesligaspielplan steht.
Die irrste Show der Bundesliga
In diesen 27 Jahren hat der VfL in München nie gewonnen und nur zwei Punkte geholt. Das ist Rekord für eine Paarung, in der der Gast nie als Sieger vom Platz ging. Bayern-Heimsiege gegen den VfL sind also das Normalste von der Welt, auch am Samstagnachmittag (ab 15.30 Uhr im LIVETICKER) ist mit nichts anderem zu rechnen.
Einmal aber übertraf ein solcher Sieg alle Grenzen der Vorstellungskraft und es rauschte selbst im internationalen Blätterwald gewaltig. Am 22. September 2015 erlebte die Bundesliga ein Novum, das bis heute ein Unikum geblieben ist. Der Tag, an dem Robert Lewandowski in 539 Sekunden fünf Rekorde aufstellte.

Ungewöhnlicher Start: Der Torjäger auf der Bank
Der Reihe nach: Die Bayern empfingen im Jahr drei unter Pep Guardiola als ungeschlagener Tabellenzweiter den VfL Wolfsburg an jenem Dienstagabend zum Verfolgerduell, Platz eins gebührte dank besserer Tordifferenz Borussia Dortmund.
Am Samstag hatten sie in Darmstadt mit einer B-Mannschaft 3:0 gewonnen, Guardiola rotierte und ließ unter anderem seinen leicht angeschlagenen Mittelstürmer Lewandowski zu Hause. Einmal hatte er in jener Saison auch schon auf der Bank gesessen und dort fand er sich auch gegen Wolfsburg wieder, neben Koryphäen wie Javi Martínez, Kingsley Coman und dem noch blutjungen Joshua Kimmich.
Das Spiel lief schlecht, die Stürmer Thomas Müller, Mario Götze und Douglas Costa kamen kaum zu Abschlüssen. Die Gäste dagegen gingen nach 26 Minuten durch Daniel Caligiuri in Führung und nahmen diese mit in die Pause.
Guardiola reagierte und brachte Lewandowski für seinen Lieblingsschüler Thiago, der seinen Frust darüber zum Ausdruck brachte.
Müller rückte ins Mittelfeld, der Pole in die Sturmspitze. Kein genialer Schachzug, nur ein naheliegender. Und trotzdem schien er die von Dieter Hecking trainierten „Wölfe“ völlig zu überraschen. Als hätte den Torschützenkönig von 2013/14 niemand auf dem Zettel. In Minute 51 begann die irrste Show, die je ein Bundesligaspieler abgeliefert hat.
Die irren neun Minuten
Sie dauerte besagte 539 Sekunden, in denen Lewandowski fünf (!) Tore erzielte. Vier mit rechts, eines mit links. Ein Abstauber war darunter, ein satter Distanzschuss, aber auch zum guten Schluss ein artistischer Seitfallzieher. Mit jedem Treffer wuchs Guardiolas Fassungslosigkeit, seine Augen wurden größer und er schüttelte ungläubig den Kopf. Aber so ging es ja allen im Stadion und vor den Bildschirmen.
Der für das Spiel zuständige Sky-Reporter Kai Dittmann rief am Ende in der Konferenzsendung statt „Tor in München“ nur noch „Lewandowski in München“. Fünf Tore in neun Minuten durch ein und denselben Spieler!!!
„Ich weiß auch nicht, was in jenen neun Minuten passiert ist. Einfach grauenhaft“, stöhnte Wolfsburgs Caligiuri.
Wie das geschehen konnte, gegen so erfahrene Abwehrspieler wie Naldo oder den Ex-Bayern Dante, interessierte hinterher aber nur die Wolfsburger.
Die Bayern feierten ihren polnischen Superman, der 2014 aus Dortmund gekommen war. Wobei Kapitän Philipp Lahm augenzwinkernd monierte, dass Lewandowski „dann einfach nachgelassen hat“. Schließlich blieb er 30 Minuten torlos und vergab noch zwei Chancen. „Dass er heute nicht mit sieben Toren heimgeht, ist wirklich enttäuschend.“
Rekord von Gerd Müller eingestellt
Sehr zur Erleichterung allerdings eines damals 60-jährigen Herrn, den die Reporter am nächsten Tag anriefen. Dieter Müller, der am 17. August 1977 für den 1. FC Köln als einziger überhaupt sechs Bundesliga-Tore (beim 7:2 gegen Werder Bremen) erzielt hatte, durfte seinen Rekord behalten. „Ich habe das Spiel gesehen und schon ein bisschen gezittert“, gestand der Ex-Nationalspieler.
Anderen half kein Daumendrücken, denn auf einen Schlag sicherte sich Lewandowski in jenen unwirklichen neun Minuten fünf Rekorde:
- Die meisten Tore eines Jokers (alter Rekord: drei Tore, unter anderem von Bremens Miroslav Klose gehalten).
- Der schnellste Hattrick (4:22 Minuten, zuvor Duisburgs Michael Tönnies/fünf Minuten)
- Der schnellste Joker-Hattrick (zuvor Dortmunds Norbert Dickel/sechs Minuten)
- Der schnellste Vierer-Pack (sechs Minuten/zuvor Wolfsburgs Martin Petrov in 17 Minuten)
- Der schnellste Fünferpack (neun Minuten/zuvor Bayerns Dieter Hoeneß in 21 Minuten).
Lewandowski: „Eine große Geschichte für mich und den FC Bayern“
Außerdem stellte er den von Gerd Müller und Dieter Hoeneß gehaltenen Vereinsrekord für die meisten Tore in einem Bayern-Spiel ein. Wie waren die Reaktionen?
Lewandowski, der selbst nach dieser Torgala nüchtern blieb, sagte nur: „Ein unglaublicher Abend. Eine große Geschichte für mich und den FC Bayern.“
Italiens Gazzetta dello Sport machte einen Außerirdischen aus ihm und titelte: „Marsmensch Lewandowski“. Spaniens Marca schrieb: „Ein Gigant namens Lewandowski“. Englands The Telegraph sah „eine der unglaublichsten Leistungen überhaupt.“ Der Kicker widmete ihm drei Sonderseiten und Mitspieler Jerome Boateng witzelte: „Für diese Leistung lerne ich Polnisch“. Er fand sogar das passende Wort: „Gratulacja!“
Der Tag brachte den Durchbruch für Lewandowski, der in seiner ersten Bayern-Saison „nur“ 17 Tore erzielt hatte, in München. Bis 2022 verdoppelte er diesen Wert fast regelmäßig; mit 312 Toren ist er die Nummer zwei der Bundesligageschichte und 2020/21 vollbrachte er ein weiteres Wunder.
Da knackte er den für unübertrefflich gehaltenen Torrekord von Gerd Müller (40 in 1971/72). Aber seine Torexplosion gegen Wolfsburg blieb einmalig. Thomas Müller hatte es damals schon geahnt: „So etwas wird es so schnell nicht mehr geben!“