Walid Regragui hat es tatsächlich geschafft.
WM 2022: Mr. Avocado Head - Walid Regragui ist der Macher des Marokko-Märchens
Das ist „Mr. Avocado Head“
Nach dem historischen 1:0-Erfolg über Mitfavoriten Portugal führte der 47-Jährige die marokkanische Nationalmannschaft als erstes afrikanisches Team der Geschichte in ein WM-Halbfinale. Am Mittwoch haben die Löwen vom Atlas im Duell mit Titelverteidiger Frankreich die Möglichkeit, ihr Märchen fortzusetzen. (NEWS: Alles Wichtige zur WM)
Dem Weltmeistertrainer Didier Deschamps, der die Équipe Tricolore in den vergangenen zehn Jahren zum Maß aller Dinge formte, wird in seinem zweiten WM-Halbfinale ein Kontrahent gegenüber stehen, der seit gerade einmal drei Monaten im Amt ist.
Nationaltrainer aus dem Nichts
Deschamps war bereits zwei Jahre Übungsleiter bei der französischen Nationalmannschaft, als Regragui seine Trainerlaufbahn im Jahr 2014 überhaupt erst begann.
Sechs Jahre lang trainierte er den marokkanischen Erstligisten FUS de Rabat, ehe er sich 2020 nach sechs Jahren in der Heimat dem katarischen Klub al-Duhail anschloss. Nach nur einem Jahr im Amt kehrte er zu Wydad Casablanca nach Marokko zurück und feierte prompt die Meisterschaft in der marokkanischen Botola.
Die erfolgreiche Titelverteidigung genügte dem marokkanischen Fußballverband als Referenz, um den bis dahin international unerfahrenen Regragui zum Nationaltrainer zu befördern.
Vorgänger Vahid Halilhodzic glückte zwar noch die erfolgreiche Qualifikation für die Weltmeisterschaft, jedoch spielten auf Grund persönlicher Differenzen Superstars wie Hakim Ziyech oder Noussair Mazraoui vom FC Bayern München keine Rolle in der Kaderplanung des 70-Jährigen.
Ihren Weltklasse-Spielern solidarisch gegenüberstehend, entschloss sich der marokkanische Verband, sich vom Bosnier zu trennen.
Kritiker belächelten ihn als „Avocado-Kopf“
Zwar holte Regragui die zuvor ausgemusterten Stars direkt zurück, Anerkennung im eigenen Land brachte ihm dieser Schachzug allerdings nicht ein. Im Gegenteil: Eine Reihe von Experten kritisierten die Trainerwahl. Herablassend tauften sie den neuen Mann an der Seitenlinie „Mr. Avocado Head“.
Mit Taten ließ der 47-Jährige die heimischen Kritiker aber schnell verstummen und führte seine Auswahl mit einem torlosen Remis gegen Kroatien sowie Siegen über den ewigen Geheimfavoriten Belgien und Kanada zu Tabellenplatz 1 in der Gruppe F. (DATEN: Gruppen und Tabellen der WM)
Spätestens seit dem Achtelfinal-Erfolg durch den Sieg gegen Ex-Weltmeister Spanien sind auch die letzten geringschätzigen Stimmen verstummt.
„Wir vertrauen ihm. Er hat aus uns eine Familie gemacht und macht einen fantastischen Job, obwohl er dafür nicht viel Zeit hatte“, äußerte sich PSG-Star Achraf Hakimi fast schon bewundernd zur Arbeit des Trainers.
Durch den Sieg gegen Spanien schaffte Marokko als viertes afrikanisches Team den Einzug in ein WM-Viertelfinale.
Regragui formt marokkanische Familie
„Es war eine großartige Vorstellung, jeder hat sich aufgeopfert. Die Spieler haben sich bis aufs i-Tüpfelchen an den Matchplan gehalten“, zollte auch Regragui seiner Mannschaft nach dem Erfolg den angemessenen Respekt.
Die erbrachten Leistungen belegen den Sinneswandel, den die Mannschaft unter ihrem neuen Trainer durchlebt. Sorgten Unruhen zwischen den in Marokko geborenen Spielern und jenen, die im Ausland aufgewachsen sind, in der Vergangenheit häufig für Unruhe, treten die Löwen vom Atlas in Katar als geschlossene, harmonische Mannschaft auf.
Ein Verdienst, der dem in Frankreich geborenen Übungsleiter aus marokkanischer Sicht nicht hoch genug anzurechnen ist. Öffentlich bestätigte er zuletzt, dass keine Spannungen mehr zwischen den einst zerrissenen Lagern herrsche.
„Vor diesem Turnier hatten wir immer große Probleme zwischen den Spielern, die in Marokko geboren wurden, und den Spielern, die im Ausland aufgewachsen sind“, sagte Regragui: „Jetzt haben wir gezeigt: Jeder Marokkaner ist ein Marokkaner. Wir gehören alle zusammen. Ich habe eine außergewöhnliche Gruppe von Spielern. Wir haben aus einem Team eine Familie gemacht.“
Marokko vor dem großen Coup
Dass es sich bei diesen Worten keinesfalls um heiße Luft handelt, attestierten die Marokkaner am Samstag gegen Portugal. Mit einem beherzten Auftritt, etwas Glück und einem überragenden Torhüter Bono schickte Marokko den Europameister von 2016 in die Heimat und sorgte für marokkanische Ekstase.
„Wir haben unser Kapital genutzt, wir waren ein Team und hatten die Mentalität“, analysierte Trainer Regragui mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Nun steht Marokko vor der absoluten Sensation: dem WM-Finale in Katar. Und mit diesem Trainer scheint für Marokko wirklich alles möglich.