Über vier Jahre sind mittlerweile vergangen, seit Thomas Müller eine herrlich treffende Umschreibung für Atlético Madrid fand. Im Oktober 2020 war es, als der FC Bayern auf die Colchoneros traf und die ganze Welt durch die Geisterspiel-Atmosphäre während der Corona-Krise lauschen konnte, wie das Münchner Urgestein vor sich hin grantelte. „Was ist hier los?“, regte sich Müller in Richtung des Schiedsrichters auf: „Wir spielen gegen Atlético Madrid, die größten Rabauken im europäischen Fußball, und dann gibt das Gelb oder was?“
Ein besonderes Vater-Sohn-Duo
Der Szene ging ein harmloses Duell zwischen dem Offensivspieler und Kieran Trippier voraus, für das Müller eine seltsame Gelbe Karte erhielt. Unverständnis machte sich bei ihm breit, bei zahlreichen Fans überwog neben Frust über die Fehlentscheidung aber ein Schmunzeln über Müllers Worte. Sprach er doch genau das aus, was vielen Beobachtern schon jahrelang durch den Kopf geschwebt war: Atlético hatte sich einen Namen als Defensiv-Monster gemacht. Bissig, eklig, provokant und sehr unangenehm. Rabauken eben - fast nie attraktiv, dafür allerdings enorm erfolgreich.

Leverkusen unterliegt bei Atlético
In gewisser Weise ist es nicht verwunderlich, dass sich daran bis heute wenig geändert hat. Die Schlüsselpositionen sind nach wie vor mit den gleichen Personen besetzt, allen voran der Stuhl des Trainers, den der argentinische Exzentriker Diego Simeone seit 2011 innehat. Er lehrt in Perfektion die aggressive Gangart, die seine Mannschaft Woche für Woche an den Tag legt - was nicht zuletzt Bayer Leverkusen am späten Dienstagabend in der Champions League (1:2) zu spüren bekam. Die Werkself gab ein sicher geglaubtes Spiel mit vielen Rudelbildungen und harten Fouls noch aus der Hand.
„Die einzige Möglichkeit, die sie hatten, war, dass wir ihnen das Gefühl geben, es wird hier ein Kampfspiel“, erklärte Jonathan Tah nach der Niederlage im Metropolitano am DAZN-Mikrofon und brachte es auf den Punkt. Kampfspiele sind nun mal Abende, die für Atlético und Simeone, dem personifizierten Albtraum eines jeden Vierten Offiziellen, wie geschaffen scheinen. Das galt 2011, das gilt 2025 immer noch. Mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass es nicht mehr ein Simeone allein ist, der für Trubel sorgt. Mittlerweile bekommt er Unterstützung aus der eigenen Familie, von seinem Sohn und Stürmer Giuliano, der eine immer wichtigere Rolle einnimmt.
Dass Atlético mit dieser hitzigen Atmosphäre und den gewohnten Sticheleien besser als die Leverkusener zurechtkam, war quasi vorprogrammiert - der doppelte Simeone-Impact für den Double-Sieger aus Deutschland dann endgültig einer zu viel. Egal, wo es auf dem Spielfeld knallte und knirschte, einer der beiden stand immer für Trashtalk oder das übliche Lamentieren nach Atlético-Manier bereit. Wie der Vater, so der Sohn, könnte man sagen. Chef-Rabauke und Junior-Rabauke wäre eine nicht minder passende Bezeichnung für das neue Duo. Andererseits ist es auch ein Märchen, das derzeit bei den Rojiblancos geschrieben wird.
Atlético? Der “Traumklub” von Giuliano Simeone
Eine Story, die erst sehr fern schien. Giulianos Karriere begann in Buenos Aires beim argentinischen Spitzenklub River Plate. Als Vater Diego an Weihnachten 2011 den Trainerposten in Madrid übernahm, flossen im Wohnzimmer die Tränen. „Ich war noch sehr klein, Papa ging weg, und man wusste: Wenn er es gut macht, kommt er nicht wieder“, erinnerte sich der 22-Jährige einst an diesen Tag. Gleichzeitig spürte er ein gegenseitiges Verständnis, das die Liebe zum Fußball entstehen ließ: „Ich sagte ihm, er solle gehen. Es sei Wahnsinn, gegen Messi und Ronaldo wettstreiten zu können.“
Was folgte, ist Geschichte: Sein Papa meisterte den Sprung besser als wohl jemals erhofft. Und zwar so gut, dass Giuliano Atlético zu seinem eigenen „Traumverein“ und Karriereziel auserkor. Als Balljunge hatte ihn die Faszination erstmals vor Ort gepackt, vor zehn Jahren war er zu Besuch in Spanien und bejubelte ein 2:0 im Pokal gegen Real Madrid in den Armen seines Vaters. Der Wunsch, eines Tages ebenfalls dorthin zu kommen, wuchs noch mehr. 2019 trat Giuliano schließlich in die Jugendakademie ein, um die Vereinskultur kennenzulernen, die sein Vater wie kaum ein anderer geprägt hat.
„Wer nicht rennt, spielt eben weniger“
Eine Sonderbehandlung erhielt der jüngste Sohn des Cheftrainers allerdings nie. Warum auch, fragte Diego Simeone immer wieder. Der 54-Jährige schickte Giuliano lieber durch die harte Schule. Nach einem kurzen Debüt in der ersten Mannschaft wurde er 2022 zunächst ausgeliehen. Ein Jahr spielte er in Saragossa zweitklassig, dann ging es für eine Saison mit Alavés in den Abstiegskampf in LaLiga - in dem er sich erst von einem Schien- und Wadenbeinbruch erholen musste, im Anschluss aber eine starke Rückrunde bestritt und ausgerechnet im Duell gegen seinen Vater zum besten Mann auf dem Platz avancierte. Alavés gewann mit 2:0, Giuliano erkämpfte sich so einen Kaderplatz bei Atlético.
Seit letztem Sommer ist Giuliano nun endlich ein fester Bestandteil der Colchoneros. Mit dem Torriecher eines klassischen Goalgetters schmückt er sich zwar nicht. Dafür verkörpert der Sohn des Trainers die Mentalität des Vereins nahezu perfekt. „Wer rennt, spielt. Wer nicht rennt, spielt weniger“, betonte Vater Diego unlängst und machte damit indirekt klar, dass Ersteres auf seinen Sohn voll zutrifft. Giuliano, der anfangs auf dem rechten Flügel oder sogar als linker Außenverteidiger eingesetzt wurde, verfügt über das gesamte Atlético-Repertoire: Er kann rennen, kämpfen und beißen, also ein extrem unangenehmer Gegenspieler sein.
Simeone holt Hincapiés Platzverweis heraus
Die Leverkusener können ein Lied davon singen. Trotz Führung, trotz des Selbstbewusstseins einer elf Spiele andauernden Siegesserie, trotz langer Überzahl scheiterte das Vorhaben, etwas Zählbares aus Madrid mitzunehmen, nicht zuletzt am doppelten Simeone-Effekt. Trainer Diego hatte seinen Spielern während der Halbzeit mitgeteilt, wer beim Gegner bereits verwarnt war, und sie aufgefordert, diese besonders zu ärgern. Sohn Giuliano versuchte alles, um dies auf dem Platz umzusetzen und schwang sich zu einem der Hauptprovokateure auf - mit maximalem Erfolg.
Während die Mannschaft von Xabi Alonso die Begegnung im ersten Durchgang noch souverän unter Kontrolle hatte, ging ihnen das Gespür nach der Pause flöten, sodass „Atlético Luft bekam und das Spiel dorthin zerrte, wo sie es haben wollten“, erklärte Alonso später. Daraus entstand eine der Schlüsselszenen: In der 76. Minute ging der bereits verwarnte Piero Hincapié an der Grundlinie in einen Zweikampf mit eben jenem Giuliano, ließ sich erst abkochen, dann zu einem Foul hinreißen und kassierte dafür die Ampelkarte - der Vorbote des zweiten Treffers von Julian Álvarez, der den Sieg der Madrilenen kurz vor Ende der regulären Spielzeit perfekt machte.
„Sie haben das Stadion hochgepusht, wir haben uns provozieren lassen. Am Ende haben sie es geschafft. Das tut extrem weh“, gab Tah anschließend einen kurzen Einblick in sein Innenleben. Mit dem Wort „sie“ dürfte der deutsche Nationalspieler zum einen Atlético als Ganzes gemeint haben, vor allem aber das gefürchtete Vater-Sohn-Gespann, bestehend aus den Simeones. Die beiden ähneln sich nicht nur optisch, Diego scheint seinem Sohn auch Temperament und Mentalität vererbt zu haben. So haben es die Kontrahenten nun nicht mehr nur mit einem, sondern mit gleich zwei Hitzköpfen vom selben Schlag zu tun.