Seitdem Ende September die Verhandlungen zwischen Jumbo-Visma und Soudal Quick-Step bezüglich einer Fusion publik gemacht wurden, verging kein Tag mehr ohne neue Wendungen.
Rad-Gigant entgeht dem Untergang - oder doch nicht?
Die Folgen der Rad-Seifenoper
Nun scheint der finale Akt dieser Seifenoper jedoch über die Bühne gegangen zu sein: Wie die belgische öffentlich-rechtliche Sportplattform Sporza berichtet, ist die Fusion zwischen den beiden Radteams endgültig vom Tisch.
Das aus den Niederlanden stammende Radsport-Portal Wielerflits, das zuerst über die Fusionsgespräche berichtet hatte, hat die Meldung mittlerweile aus eigenen Quellen bestätigt.
Stand jetzt bleibt damit alles beim Alten und sowohl Jumbo-Visma als auch Soudal Quick-Step werden in der kommenden Saison als eigenständige Teams an den Start gehen.
Ganz so spurlos ist die ganze Geschichte jedoch nicht an den Beteiligten vorbeigegangen. SPORT1 klärt die wichtigsten Fragen und schaut auf die Gewinner und Verlierer.
Wie geht es weiter mit Jumbo-Visma?
Sportlich darf sich das Team immer noch über eine historische Saison freuen. Nie zuvor in 73 Jahren, in denen die drei großen Landesrundfahrten in einem Kalenderjahr stattgefunden haben, hatte ein Team den Giro d‘Italia, die Tour de France und die Vuelta gewonnen. In dieser Saison gelang den Niederländern das Kunststück mit Primoz Roglic (Giro), Jonas Vingegaard (Tour) und Sepp Kuss (Vuelta).
Und dennoch ist die Zukunft des Teams ungewiss. Jumbo steigt Ende 2024 als Titelsponsor aus. Als Ersatz wurde Amazon ins Spiel gebracht.
Wie die niederländische Tageszeitung AD vermeldete, sollte dieser Deal 15 Millionen Euro in die Kassen spülen. Laut dem Bericht ist der E-Commerce-Gigant jedoch von diesem Vorhaben wieder abgerückt.
Nun soll das niederländische Unternehmen PON in der Favoritenrolle sein. Unter anderem gehört der PON Holding das Unternehmen Cervélo, welches aktuell als Reifenhersteller für Jumbo-Visma fungiert. Ob jedoch PON direkt oder Cervélo als Titelsponsor auftreten soll, ist noch nicht geklärt.
Was bedeutet die geplatzte Fusion sportlich für Jumbo-Visma?
Sind die wirtschaftlichen Fragezeichen nach der geplatzten Fusion schon groß, dürften die sportlichen Auswirkungen für enormes Kopfzerbrechen bei den Verantwortlichen führen. Nicht nur, dass der Traum von einem neuen Super-Team geplatzt ist, auch die aktuelle Mannschaft ist zerbrochen.
Mit Primoz Roglic hat sich ein Star bereits einem anderen Team angeschlossen. Der 33-Jährige gab kürzlich bekannt, dass er im kommenden Jahr für das deutsche Team Bora-hansgrohe auf Titeljagd gehen wird.
Dort wird er als unangefochtener Teamleader agieren und den Zweikampf zwischen Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard bei der Tour de France zu einem Dreikampf machen. Die neutralen Radsport-Fans sind damit ein großer Gewinner der geplatzten Fusion: Statt Langeweile durch ein Über-Team dürfen die Zuschauer noch spannendere Duelle bei Tour und Co. hoffen.
Jumbo dagegen hat mit Roglic nicht nur einen Star-Fahrer verloren, sondern quasi über Nacht auch noch einen Top-Konkurrenten im Kampf um das Gesamtklassement beim prestigeträchtigsten Radrennen der Welt bekommen.
Zudem verlässt auch noch Marc Lamberts das Team. Der Belgier war zwölf Jahre lang als Trainer an der Seite von Wout van Aert. „Marc war mein erster und einziger Trainer, daher wird es in vielerlei Hinsicht anders sein“, erklärte van Aert im Gespräch mit Het Laatste Nieuws und fügte hinzu: „Ich persönlich finde es schade, dass ich wechseln muss.“
Lambert soll ebenfalls bei Bora-hansgrohe anheuern, eine Bestätigung gibt es jedoch noch nicht. Sollte dies der Fall sein, würde das deutsche Team noch stärker auftreten.
Ist jetzt alles gut bei Soudal Quick-Step?
Dass man bei den Belgiern keine Jubelsprünge machte, als die Fusionsspekulationen aufkamen, wurde spätestens durch die Aussagen von Ilan van Wilder klar. Nach seinem Sieg beim Tre Valli Varesine in Italien redete sich der Belgier regelrecht in Rage: „Dieser Sieg ist für meine Teamkollegen und unseren Staff, denn wir befinden uns in einer wirklich schwierigen Situation. Wir haben gezeigt, dass wir mit dem ganzen Scheiß nicht einverstanden sind.“
Seine Wutrede beendete er mit dem Aufruf: „Wir wollen Soudal Quick-Step bleiben.“ Diese Chance haben van Wilder und seine Teamkollegen nun. Bei einer Fusion wäre wohl der Großteil der Soudal-Fahrer und -Mitarbeiter auf der Straße gelandet.
Jetzt haben sie Gewissheit, dass es bis 2025 weitergeht. Darauf haben sich CEO Patrick Lefevere und Team-Besitzer Zdenek Bakala geeinigt. Allerdings soll der tschechische Multi-Millionär laut Sporza bereits klargemacht haben, dass sein Engagement nicht über 2025 hinausgehen wird. Zudem will der 62-Jährige bis dahin schon seine Investition in das Team zurückfahren.
Die sportliche Folge: Verstärkungen für Top-Star Remco Evenepoel wird es wohl keine geben. Dabei hatte der aktuelle Zeitfahr-Weltmeister und Vuelta-Sieger von 2022 zuletzt immer wieder eine bessere Unterstützung auf den Bergetappen bei den Grand Tours gefordert.
In den letzten Jahren hatte sich das Team zunehmend auf den 23-Jährigen fokussiert und sich so von einem Team für Klassiker und Eintagesrennen zu einer Mannschaft für Rundfahrten gewandelt.
Gibt es einen Gewinner?
Während Jumbo-Visma - und in geringerem Ausmaß auch Soudal Quick-Step - als Verlierer der Geschichte bezeichnet werden darf, geht der Soudal-CEO als großer Gewinner hervor.
Der 68-Jährige hat sich in den vergangenen Tagen als Fürsprecher der Soudal-Fahrer hervorgetan. Mit der vorhandenen Lizenz soll er sogar geplant haben, ein „opvangteam“, ein Auffangteam zu gründen. Dies vermeldete die belgische Boulevardzeitung Het Laatste Nieuws. Dort sollten die Soudal-Angestellten - Fahrer und Techniker - unterkommen, die bei der Fusion auf der Strecke geblieben wären.
„Wenn dieses Szenario wahr würde, dann könnten alle Patrick erneut unendlich dankbar sein“, wird der belgische Radprofi Pieter Serry in dem Bericht zitiert. Der 34-Jährige fährt seit 2013 für Lefeveres Rennstall. Selbst von einer Rückkehr zu den Wurzeln als Klassiker-Team wurde bereits geträumt.
„Es sind immer noch viele tolle Fahrer an Bord. Mit ihnen sollten wir in der Lage sein, zu unserer DNA von vor ein paar Jahren zurückzukehren, einem Klassikerteam, das Siege in Eintagesrennen anpeilt“, sagte Teamarzt Steven Bex auf das Projekt angesprochen.
Remco Evenepoel - der große Verlierer?
Für Evenepoel sollte mit der geplatzten Fusion eigentlich ebenfalls alles gut sein. Im Vorfeld der Lombardei-Rundfahrt hatte der zweimalige Straßenweltmeister eingestanden, dass die Situation belastend sei. „Es gibt Grund zur Panik und stresst.“ Diese Belastung ist nun von seinen Schultern genommen, weswegen er fokussiert die Lombardei-Rundfahrt, „mein letztes großes Saisonziel“, angehen kann.
Aber was kommt nach dieser Saison? Soudal wird in den kommenden zwei Jahren finanziell keine großen Sprünge machen. Seine Ambitionen bei den Grand Tours kann der Belgier, der in seiner Heimat schon als neuer Eddy Merckx gefeiert wird, damit wohl erstmal begraben. Stellt sich die Frage, ob er unter diesen Voraussetzungen gewillt ist, seinen bis 2026 laufenden Vertrag zu erfüllen?
Ein Wechsel zu INEOS-Grenadiers um den einstigen Tour-Sieger Egan Bernal rückt damit wieder in greifbare Nähe. Zwar hatte Lefevere die Gerüchte um einen Wechsel Mitte September noch als ein „abgeschlossenes Kapitel“ bezeichnet. Das war jedoch vor dem Theater der letzten Tage.
Für Evenepoel wäre INEOS wohl die einzige Option, die Sinn ergeben würde. Jumbo-Visma, UAE Emirates und Bora-hansgrohe haben schon ihre Kapitäne für die kommende Saison. Dort wäre Evenepoel höchstens ein Edelhelfer für Vingegaard, Pogacar oder Roglic.
Bei den Briten stehen zwar mit Bernal und Altmeister Geraint Thomas ebenfalls große Namen und starke Persönlichkeiten im Team - Thomas ist mit 37 Jahren aber womöglich kein Tour-Kapitän mehr (dieses Jahr war er gar nicht dabei) und Bernal beendete die Rundfahrt 2023 auf einem schwachen 36. Platz.