Leo Neugebauer ist aktuell die wohl größte Hoffnung in der deutschen Leichtathletik.
Top-Star erklärt VfB-Wechsel
Der Zehnkämpfer, der im Juni mit 8.836 Punkten den deutschen Uralt-Rekord von Jürgen Hingsen knackte, war einer der wenigen Lichtblicke bei der vergangenen WM, als das DLV-Team erstmals komplett ohne Medaille blieb. (Jürgen Hingsen: Wie eine deutsche Ikone zum „Depp der Nation“ wurde).
Der 23-Jährige überraschte unlängst mit einem Vereinswechsel von der LG Leinfelden-Echterdingen zum VfB Stuttgart. Im SPORT1-Interview spricht Neugebauer über seinen neuen Klub, das große Ziel Olympia im kommenden Jahr und die magische 9.000-Punkte-Grenze.
SPORT1: Herr Neugebauer, vor einer Woche kam die Meldung, dass Sie zum VfB Stuttgart wechseln. Können Sie Ihre Beweggründe erklären?
Leo Neugebauer: Dort wo ich aufgewachsen bin, war der VfB Stuttgart schon immer der größte Verein in meiner Umgebung. Der VfB hat mir ein ziemlich gutes Angebot gemacht, für das ich mich gerne entschieden habe, weil ich mich mit dem Verein identifizieren kann. Und genau deswegen freue ich mich schon auf die Zusammenarbeit mit dem VfB. Dort sind coole Athleten, die ich sehr bewundere.
SPORT1: Sie leben nach wie vor in Austin (Texas). Werden Sie nach dem Vereinswechsel öfter in Deutschland sein?
Neugebauer: Ich glaube, es wird hauptsächlich bei Wettkämpfen in Deutschland so sein, dass ich dann für den VfB antreten werde. Ich werde weiterhin in Amerika trainieren, aber wenn ich in Deutschland bin, dann werde ich natürlich beim VfB im Olympiastützpunkt trainieren. Dort habe ich ja sowieso immer trainiert, wenn ich in Deutschland war. Da wird sich also nicht sehr viel ändern. Nur, dass ich bei Wettkämpfen das Stuttgart-Wappen auf der Brust tragen werde.
SPORT1: Sind Sie Fußballfan? Und möglicherweise sogar VfB-Anhänger?
Neugebauer: Ich hatte nie einen Verein, von dem ich großer Fan war. Deswegen ist es jetzt eigentlich perfekt. Da ich jetzt VfB-Mitglied bin, kann ich jetzt definitiv sagen, dass ich den VfB anfeuern werde (lacht).
SPORT1: Die vergangene Saison war traumhaft für Sie, auch wenn es dann in Budapest knapp nicht für eine Medaille gereicht hat. Hatten Sie im Urlaub danach ein bisschen Zeit, über die Saison zu reflektieren?
Neugebauer: Ja, definitiv. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie alles gelaufen ist. Natürlich kann ich nicht unzufrieden mit der Saison sein, weil ich viele gute Dinge erreicht habe. Bei der WM wollte ich die Medaille, das wäre ein schönes Ende für die Saison gewesen. Ich glaube aber auch, dass ich durch die ganzen Fehler, die ich am zweiten Tag begangen habe, vieles lernen konnte. Für mich ist das Wichtigste, das in die nächste Saison mitzunehmen, damit ich besser abschneiden kann - vor allem auch bei den Olympischen Spielen.
Olympische Spiele 2024: „Die Vorfreude ist schon riesig“
SPORT1: Die Olympischen Spiele werden nochmal ein ganzen Stück größer als die WM. Freuen Sie sich schon darauf?
Neugebauer: Ich freue mich schon sehr drauf, ich kann es kaum erwarten. Die Vorfreude ist schon riesig.
SPORT1: Wie ist Ihr Stand in der Saisonvorbereitung? Wie weit sind Sie?
Neugebauer: Um ehrlich zu sein, fühle ich mich schon sehr gut, für diese Zeit im Jahr. Ich fühle mich jetzt schon top. Ich glaube, so gut habe ich mich noch nie so früh in der Saison gefühlt. Deswegen kann ich es kaum erwarten, diese Saison loszulegen. Zunächst die Hallensaison und dann auch draußen.
SPORT1: Wo liegen gerade Ihre Trainingsschwerpunkte?
Neugebauer: Wir machen sehr viel Ausdauer, vor allem Sprintausdauer. Alles, was für den Sprint hilft. Kurzstrecken über 100 Meter, aber natürlich auch 400 Meter, oder auch längere für 1.500 Meter zum Beispiel. In dem Bereich machen wir immer viel aktuell im Herbst. Dann aber auch noch technische Sachen, wie Hürden und Würfe.
SPORT1: In welchen Disziplinen haben Sie das größte Steigerungspotenzial?
Neugebauer: Sehr gute Frage. Überall so ein kleines bisschen. Das größte Steigerungspotenzial kann ich gar nicht so genau sagen, darüber habe ich mir bisher keine Gedanken gemacht. In jeder Disziplin gibt es immer ein bisschen, was man besser machen kann.
SPORT1: In Budapest sprangen Sie genau acht Meter weit. Glauben Sie, dass Sie auch hier noch besser werden können?
Neugebauer: Ich glaube, dass ich definitiv nochmal acht Meter springen kann. Ich weiß nicht, ob noch viel weiter, aber diese acht Meter sind auf jeden Fall nochmal machbar. Ich glaube, im Hochsprung kann ich auch definitiv höher springen. Ich bin diese Saison ja nur so 2,03 oder 2,02 Meter gesprungen, meine Bestleistung sind aber 2,07 Meter. Und ich denke, dass ich sogar noch höher springen kann. Im Speerwurf kann ich mich auch nochmal steigern, ich habe bisher in jeder Saison nochmal etwas draufgelegt. Im Stabhochsprung sind auch definitiv nochmal ein oder zwei Latten höher drin. Es ist also überall noch ein bisschen was drin.
Neugebauer über den Erwartungsdruck
SPORT1: Sie waren in diesem Jahr eine der wenigen positiven Erscheinungen in der deutschen Leichtathletik. Wie gehen Sie mit dem Erwartungsdruck um? Stört Sie oder motiviert Sie das?
Neugebauer: Ich hatte bisher nie so viel Druck, wie bei der WM. Einfach nur, weil ich als Jahresbester in den Wettkampf gegangen bin. Da gab es viele Erwartungen an mich. Ich glaube aber, ich habe das ziemlich gut gehandelt. Der zweite Tag war ein bisschen chaotisch, aber ich habe daraus gelernt. Trotzdem würde ich sagen, dass ich ziemlich gut mit dem Druck umgegangen bin. Da ich jetzt schon ein bisschen das Gefühl hatte, wie es sich anfühlt, so viel Druck zu haben, werde ich entspannter und mit mehr Erfahrung in die Olympischen Spiele gehen. Ich glaube, das kann etwas Gutes werden.
SPORT1: Zu den magischen 9.000 Punkten fehlen Ihnen nur noch 164. Wie optimistisch sind Sie, diese Punktzahl irgendwann einmal in Ihrer Karriere zu erreichen?
Neugebauer: Ich glaube, das ist definitiv drin. Wenn man alle meine Bestleistungen addiert, kommt man bereits gut über die 9.000 Punkte. Natürlich kann man nie erwarten, immer die Bestleistung zu erreichen. Wenn ich aber in ein, zwei oder drei Disziplinen nochmal eine Bestleistung raushole, dann können die nötigen Punkte schon kommen. Daher bin ich ziemlich zuversichtlich, dass ich an irgendeinem Punkt meiner Karriere das Ziel nochmal erreichen werde. Nur das „Wann“ ist hier die Frage.
SPORT1: Wie sieht Ihr Fahrplan für die kommende Saison aus? Wissen Sie schon, wann Sie in den ersten Wettkampf einsteigen werden?
Neugebauer: Mein erster Wettkampf des Jahres wird wahrscheinlich Ende Januar ein Siebenkampf sein. Eventuell werde ich vorher ein paar Einzeldisziplinen machen, aber mein richtiger Einstieg wird der Siebenkampf sein.
SPORT1: Und der erste Zehnkampf?
Neugebauer: Der erste Zehnkampf werden wahrscheinlich die Texas Relays sein, die im März stattfinden.
SPORT1: Wie sieht es mit der Europameisterschaft in Rom aus, die Anfang Juni stattfindet?
Neugebauer: An der EM werde ich nicht teilnehmen, weil das ansonsten zu viel wird.
Der Traum einer olympischen Medaille
SPORT1: Im August werden Sie dann in Paris Ihre erste Olympischen Spiele erleben. Haben Sie sich schon ein Ziel gesteckt?
Neugebauer: Für mich ist erstmal wichtig, fit in Olympia reinzugehen. Mein Traum ist natürlich eine Medaille, das wäre schon top. Wenn ich einfach mein Bestes gebe, wird das schon ein sehr guter Zehnkampf werden.
SPORT1: Nachdem die deutsche Leichtathletik in der WM keine Medaille holen konnte, wurde das Gesamtbild der deutschen Leichtathletik sehr stark kritisiert. Können Sie den Pessimismus nachvollziehen?
Neugebauer: Ich kenne mich dafür nicht gut genug aus, da ich hier in Texas etwas zu weit weg von den deutschen Athleten bin. Ich denke aber, dass die vielen Verletzten einen Ausschlag gegeben haben, dass wir ohne Medaillen geblieben sind. Ich glaube, das sagt nichts darüber aus, wie es momentan in der deutschen Leichtathletik läuft.